Mit der Kraft der zwei Städte

Über ehemalige Staatsgrenzen hinweg zusammengepappt wurde einst das, was heute Bremerhaven heißt. Was lässt sich von dieser Herstellung erkennen? Und was bedeutet es für die, die dort leben?

Im Lesesaal des Seemanns­wohnheims Foto: Historisches Museum Bremerhaven

Von Lisa Bullerdiek

Jetzt meckern Möwen über der Geestebrücke, Autos und ein Bus rumpeln vorbei. Auf der nördlichen Seite liegt Mitte, auf der anderen der Stadtteil Geestemünde. Die Geeste sickert dahin. Das alles ist Bremerhaven. Vor 400 Jahren war sie die Grenze: Links Schweden, rechts Dänemark, und auf beiden Seiten des Flusses standen einander feindliche Soldaten gegenüber. Es herrschte Krieg. Und viel später soll es hier noch immer Prügeleien gegeben haben. Keine 70, 80 Jahre ist es her.

Ganze Horden von Jugendlichen, die mit Stöcken am Geländer entlangklackern, mit ihren Händen über das hellgrün bemalte Metall streichen. Sie wollen klären, welcher Stadtteil der bessere ist, endgültig, ein für alle Mal. Bis zur nächsten Prügelei.

Damals wirkt die Geestebrücke noch nicht klein und träge gegen die Kennedybrücke weiter draußen, Richtung Meer. Tagsüber rattert die Straßenbahn, die es heute nicht mehr gibt, über den Fluss durch die vom Wind gewaschene Luft. Nachts beleuchtet der Mond zwei Städte, die gerade erst zusammengewachsen sind, und ihre Kinder, die dafür noch etwas Zeit und ein paar Abreibungen brauchen. Nicht nur hier auf der Geestebrücke. „Da traf man sich auf dem Schwarzen Weg und hat sich gehauen“, erzählt eine Zeitzeugin, die im damaligen Geestemünde geboren wurde.

Bremerhaven besteht aus mindestens drei Städten und drei Dörfern. Lehe und Geestemünde waren ewig von Bremen unabhängig. Die Stadt Bremerhaven lag als bremische Insel im zuerst hannoverschen, dann preußischen Umland. Die kleineren Orte in der Umgebung fielen zuerst mit Geestemünde zusammen, wurden zu Wesermünde.

Biene Oltmanns* ist in der Nachkriegszeit aufgewachsen. Sich mit den Leher Kindern zu kloppen war genauso ein Hobby wie nach glitzernden Bombensplittern zu suchen. „Es war ja auch noch kein Turnverein auf“

Bis 1927 entstand ein preußischer Ring um Bremerhaven. Im Jahr 1938 wurde Bremerhaven von diesem Wesermünde verschluckt, fertig war Groß-Wesermünde. Das wiederum wurde 1947 zum bremischen Bremerhaven. In dem in diesem Jahr endlich neu aufgelegten Buch „Bremerhaven und Geestemünde – Historische Ansichten zweier konkurrierender Hafenstädte“ erzählen die Her­aus­ge­be­r*in­nen Anja Benscheidt und Alfred Kube die oft vergessene Geschichte der zwei größten Orte zwischen Weser und Geeste – Bremerhaven und Geestemünde – und von ihrem Zusammenschluss, illustriert mit Fotografien und alten Karten.

Es ist ein interessantes Buch und ein guter Anlass, um über Geschichte in einer gegenwartsbeladenen Zeit wie dieser Pandemie nachzudenken. Die Coronapandemie hat die Gegenwart zu einem einzigen, riesigen Ballon aufgebläht, alles vor 2020 ist blass dahinter zurückgetreten, von der Zukunft ganz zu schweigen. Das Buch kann diesen Ballon platzen lassen.

Wissen über Geschichte ist auch immer Wissen über die Orte, an denen sie stattfand. Wer heute vom Seedeich auf Bremerhaven guckt, sieht im Süden die ehemalige Stadt Geestemünde und das bäuerliche Geestendorf, im Norden die Stadt Bremerhaven, weiter im Inland die Stadt Lehe und drumherum Weddewarden, Spaden und ein paar andere kleine Ortschaften. Innerhalb von 120 Jahren, bis zum Jahr 1947, sind diese verschiedenen Ortschaften zusammengelaufen wie Wasserflecken – allerdings nicht so spur- und ziellos.

In den heutigen Stadtteilen erkennt man noch die früheren Städte und Orte: Die neuen Hochhäuser im Hafen erinnern an die riesigen Passagierschiffe des Norddeutschen Lloyd, in Geestemünde stille Hafenbecken an die Werften, Lagerhallen an die unzähligen Ar­bei­te­r*in­nen der Nachkriegszeit im Fischereihafen, die geräucherten Fisch unter ihrer Kleidung nach Hause schmuggelten. Die Straßen in Lehe sind schmal, verwinkelt, mit Hinterhöfen, die mal zum Fußballspielen eingeladen haben. Städtebau sei, so steht es in der Nordseezeitung vom 13. November 1948, eben ein Werk der Geschichte. Das gilt noch heute für Bremerhaven. Jede Straße ist anders. Innerhalb von zwei Minuten kann man von Straßen, die aussehen wie im Prenzlauer Berg, durch ein niedersächsisches Dorf laufen.

Heute unscheinbar: die Geestebrücke Foto: lib

Biene Oltmanns* ist 85 Jahre alt und in Bremerhaven in der direkten Nachkriegszeit aufgewachsen. Sich mit den Leher Kindern zu kloppen war genauso ein Hobby wie nach glitzernden Bombensplittern in den Trümmern zu suchen. „Es war ja auch noch kein Turnverein auf“, sagt sie und lacht. Ihre Identität als Geestemünderin hat sie nicht bis ins Erwachsenenalter und nach Bremen begleitet: „Das ist einfach eine Erinnerung.“ Ein paar Jahrzehnte später hatten die Kinder vergessen, sich wegen der verschiedenen Städte zu streiten. Höchstens beim Fußballspielen sei das noch ein Thema gewesen, sagt Uwe Gonther.

Er ist Psychiater in Bremen und in den 70ern und 80ern in Bremerhaven aufgewachsen. „Wenn es damals eine kulturelle Identität gab, dann ist es die als amerikanische Besatzungszone“, sagt er. Und das knapp 30 Jahre nach dem Krieg. Bremerhaven hat trotzige Erinnerungen geschaffen: amerikanische Sneaker auf Kopfsteinplaster, das Gefühl, eigentlich zur großen, weiten Welt zu gehören. Aber trotzdem irgendwie abgehängt zu sein.

Die Au­to­r*in­nen von „Bremerhaven und Geestemünde“ wollen von den verschiedenen Städten erzählen, um einen „identitätsstiftenden und angemessenen Umgang von Politik und Verwaltung mit den heutigen Stadtteilen und ih-

Fragmentierte Stadtgeschichte ragt immer wieder in die Gegenwart Bremerhavens hinein wie ein kritischer Kommentar Foto: Lisa Bullerdiek

rer komplizierten Geschichte“ zu erreichen. Geschichte gleich Identität? So leicht machen sie es sich auch nicht, sprechen von „Identitätskonstruktionen“. Anders wäre es auch gar nicht möglich: Allein die Geschichte der 113.000-Einwohner-Stadt zeigt deutlich, wie kontingent Geschichte ist und wie merkwürdig die Vorstellung, es gäbe bloß eine Version von ihr.

Die Nationalversammlung befeuert die Konkurrenz

Dass Nationalgeschichte eine Konstruktion ist, haben die meisten auf dem Schirm, aber es wird an kleinen Beispielen wie dieser Region besonders deutlich. So beschloss die Frankfurter Nationalversammlung 1848, eine neue Flotte für ein neues Nationalgefühl zu gründen und die Schiffe in Geestemünde zu stationieren, gegenüber dem bremischen Bremerhaven. Die Konkurrenz wird auch von der Politik befeuert.

An anderer Stelle erzählen Benscheidt und Kube, dass Hitlers „Vierjahresplan“ zur Aufrüstung Deutschlands letztendlich zur Zusammenführung Bremerhavens und Geestemündes führte. Damals hieß es Wesermünde. Oft erscheinen beide Orte isoliert vom Strom der Welt- und Nationalgeschichte. Geschichte fließt aber nicht bloß vorbei oder durch Menschen durch, sie machen auch mit. „Mit Beginn der nationalsozialistischen Diktatur setzte sich darüber hinaus ein rassistisch geprägter Nationalismus durch, der der Weltoffenheit eines international geprägten Überseehafens Grenzen setzte.“ So ein Satz verkennt das.

Auf dem Weg von Bremen nach Bremerhaven ist die Luft schwer und grün. In Geestemünde schüttet es wie aus Eimern vor den ehemaligen Abpackhallen, dann drückt der Wind den Schauer vorbei. In Lehe reißt die Sonne den grauen Himmel auf. In einer Nebenstraße der Goethestraße tropfen von den Balkons in den Hinterhöfen die letzten Reste Wasser.

Weiter zum Überseehafen auf dem Weg nach Weddewarden. Die Arme der Kräne deuten in den Himmel, als würden sie ihn mahnen, nicht wieder loszuregnen. An allem hängt Geschichte in Fetzen. Wer „Bremerhaven und Geestemünde“ liest, kann Bremerhaven bis in die Vierziger kennenlernen. Danach kommen die Trümmer, das Werftensterben, der Abzug der Amerikaner. Bremerhaven kennt Krisen. Schon der ehemals größte Petroleumhafen in Deutschland stürzte das damalige Geestemünde in eine tiefe Krise und Bremerhaven litt unter dem Wegfall der Personenschifffahrt in die ganze Welt. Das ist vielleicht die wirkliche kulturelle Identität von Bremerhaven, sollte so etwas existieren: aus dem Verlorenhaben eine Tugend zu machen, trotziger Stolz. „Die haben immer auf uns heruntergeguckt“, sagt Biene Oltmanns* als Erklärung für die Prügeleien zwischen Geestemünder und Bremerhavener Kindern. Heute denken viele Bre­mer­ha­ve­ne­r*in­nen das gleiche über Menschen aus Bremen.

Das schönste an „Bremerhaven und Geestemünde“ sind die Anekdoten, die Sätze, die zeigen, dass Geschichte aus Geschichten besteht. Zum Beispiel dieser: „Der Werftleiter besaß im Jahr 1900 das erste in Bremerhaven registrierte Automobil, das er aus Amerika importiert hatte.“

Das ist lustig, weil aus Bremerhaven heute Autos in die ganze Welt transportiert werden, und schön, weil man sich vorstellen kann, wie der Werftleiter für heutige Verhältnisse unglaublich langsam zwischen den Schiffsbugen herumrast, fast wie auf der Brooklyn Bridge.

Die Jugend liest Zeitung im Lesesaal

Das Reichspostschiff „Prinzregent Luitpold 1899“ im eigens für es errichteten, damals größten Trockendock weltweit Foto: Historisches Museum BHV

Oder dieser: „Um auch in brasilianischen Küstengewässern operieren zu können, war das Schiff mit einem Mittelschwert ausgestattet.“ Schiffe aus Bremerhaven im Dschungel, noch riesiger unter einem dicken, grünen Blätterdach. Plötzlich scheint die Luft sich zu erwärmen, sie ist zum Schneiden feucht, und erfüllt vom Kreischen der Vögel.

Einige Bilder laden auch zum Träumen ein. Zum Beispiel das Foto aus dem Speisesaal eines Seemannsheims um 1920. Es könnte auch aus einem Internat stammen, so jung sehen diese Seemänner aus, die im staubigen Licht Zeitung lesen.

* Name geändert

Anja Benscheidt, Alfred Kube: „Bremerhaven und Geestemünde. Historische Ansichten zweier konkurrierender Hafenstädte“, Schünemann, 288 S., 24,90 Euro