Vergewaltigungsdebatte in Italien: Geist der Rechtfertigung

In üblicher Wutmanier verteidigt Fünf-Sterne-Gründer Beppe Grillo seinen Sohn gegen Vergewaltigungsvorwürfe. Doch das Klima hat sich geändert.

Jeans liegen auf dem Fußboden aus. Eine Frau legt eine Jeans dazu

Wer enge Jeans trägt, ist nicht schuld an der eigenen Vergewaltigung: Proteste in Italien Foto: imago

Die Wut ist seine Chiffre. Brüllend, gestikulierend, rumtobend: So kennen die Ita­lie­ne­r*in­nen Beppe Grillo schon seit Jahrzehnten. Zunächst galt sein immer in höchsten Dezibelbereichen geäußerter Zorn mehr oder weniger verbrecherischen Großunternehmen wie der Telecom Italia oder dem Milch-Multi Parmalat, mit denen der Komiker in seinen Bühnenshows abrechnete, während sein Gesicht rot anlief und die Schläfenadern anschwollen.

Dann bestritt er, von 2009 an zum Politiker und Gründer der Fünf Sterne mutiert, seine vielen Wahlkampfauftritte mit genau derselben Rumpelstilzchen-Masche, nun gegen korrupte Politiker wie den „Psychozwerg“ Silvio Berlusconi wetternd. Und das Gebrüll zahlte sich aus: Als Comedian wurde er zum Millionär, als Politiker führte er seine Bewegung zu dem Triumph der Parlamentswahlen von 2018, als die Fünf Sterne 33 Prozent holten.

Deshalb wunderte es in Italien kei­ne*n so recht, dass Grillo sich vor zwei Wochen mal wieder mit einem Wutvideo zu Wort meldete. Ungewohnt war jedoch das Argument. Nicht um üble Machenschaften in Wirtschaft oder Politik ging es diesmal, sondern um seinen 21-jährigen Sohn Ciro. Als „Serienvergewaltiger“ geistere der zusammen mit drei Freunden durch die Medien, hebt Grillo senior an.

Im üblichen Brüllstakkato nimmt er dann die Vorwürfe auseinander. Am Nachmittag nach der vermeintlichen Tat sei die junge Frau glatt zum Kite­surfen gegangen, sie hätte dann erst nach acht Tagen Anzeige erstattet. „Seltsam, nicht wahr?“, fragt Grillo mit bebender Stimme, während seine Hand voller Wucht auf die Tischplatte vor ihm schlägt.

Noch bis 1996 behandelte das italienische Straf­gesetzbuch Vergewaltigung als Verbrechen gegen die öffentliche Moral, nicht gegen die Person

Und dann gebe es ja noch das Smartphonevideo von der fraglichen Nacht, da werde „gelacht“, da sehe man die Jungs, wie sie in Unterhosen rumhüpfen und dann ihre „Pimmel“ rausholen: „Vier Deppen, nicht vier Vergewaltiger“, fasst Grillo seine Ermittlungen zusammen. Völlig klar für ihn, dass der anschließende Sex „einvernehmlich“ war.

Unstrittig ist: Am 17. Juli 2019 hatten „Silvia“ – so nennen die italienischen Medien die junge Mailänderin mit einem Alias-Namen – und ihre Freundin „Roberta“ zufällig die vier jungen Männer aus Genua getroffen, in der Schickimickidisco Billionaire an der sardischen Costa Smeralda. Die Herren bitten an ihren Tisch (Kosten inklusive einer Flasche Champagner und einer Flasche Schnaps: 600 Euro). Die Nacht wird lang, als die beiden Mädchen kein Taxi finden, laden die Jungs in Grillos Ferienwohnung ein, „auf einen Teller Spaghetti“.

Andere Darstellungen

Von da an jedoch gehen die Darstellungen radikal auseinander. Roberta schlief schnell ein, Silvia dagegen brachte zur Anzeige, dass sie zunächst in ihrem Bett von einem der drei Freunde Ciro Grillos vergewaltigt worden sei. Dann hätten Ciro und die zwei anderen ihr in den Morgenstunden mit Gewalt eine halbe Flasche Wodka eingeflößt, um ihrerseits über sie herzufallen, einer nach dem anderen.

Nichts davon ist wahr, behaupten die vier aus Genua, aus freien Stücken habe Silvia eine Viertelflasche Wodka runtergekippt, um ihre Trinkfestigkeit zu beweisen, aus freien Stücken habe sie sich dann mit Ciro und seinen zwei noch wachen Kumpels vergnügt.

Ungute Erinnerungen

Wie die Dinge wirklich lagen, wird bald ein Prozess zu klären versuchen. Wie Beppe Grillo sie in seinem Video schon vorab geklärt hat, weckt allerdings ungute Erinnerungen an den Umgang, den Teile der Öffentlichkeit, den immer wieder auch die Justiz bis vor gar nicht langer Zeit mit Vergewaltigungen pflegten.

Da ist zum Beispiel der Fall Marinella Cammarata, der im kollektiven Gedächtnis der italienischen Frauenbewegung geblieben ist. Im März 1988 wird sie, mitten in Rom gleich hinter der Piazza Navona, von drei Männern vergewaltigt, bis ein Carabiniere einschreitet. Obwohl die Sachlage eigentlich völlig klar ist, wird der Prozess zur Tortur für sie. Die Täter sagen aus, sie seien Objekt der Avancen des Opfers gewesen, was dann geschah, war angeblich „einvernehmlich“.

Bis 1981 gab es die „heilende Ehe“

Die Verteidiger beschäftigen sich nicht mit dem Fall, sondern mit der angeblich zweifelhaften Moral des Opfers, die Verwandten beschimpfen sie im Gerichtssaal. Am Ende kommen gerade einmal zwei Jahre und ein Monat Haft heraus, ausgesetzt auf Bewährung.

Dass die Anwälte sich mit der Moral des Opfers statt mit dem Handeln der Täter befassten, kam nicht von ungefähr. Noch bis 1996 behandelte das italienische Strafgesetzbuch Vergewaltigung als Verbrechen „gegen die öffentliche Moral“, nicht gegen die Person. Bis 1981 hatte wiederum ein Paragraf Bestand, der gar die „heilende Ehe“ vorsah: Wenn der Vergewaltiger sein Opfer später ehelichte, war seine Tat dadurch ungeschehen gemacht.

Geist der Exkulpation bleibt

Solche Normen gehören der Vergangenheit an, ihren Geist der Exkulpation atmen jedoch immer wieder Gerichtsentscheidungen und auch öffentliche Reaktionen auf Vergewaltigungsfälle. So befand im Jahr 1999 das Kassations­gericht – der höchste Gerichtshof des Landes –, in dem verhandelten Fall könne gar keine Vergewaltigung vorgelegen haben, weil die Klägerin „eine enge Jeans“ trug und sie gegen ihren Willen gar nicht habe ausgezogen werden können. 2006 dann entschied ­­erneut das Kassationsgericht im Fall einer 14-Jährigen, ihre Vergewaltigung durch den Stiefvater sei „minder schwer“, da sie keine Jungfrau mehr gewesen sei.

Im Jahr 2013 urteilte ein Turiner Gericht, da das Opfer nicht geschrien habe, sei eine Vergewaltigung nicht gegeben. Bloß mehrfach zu sagen „Nein, basta“ reiche nicht aus, da die Frau weder die Stimme gehoben noch sich auch physisch gewehrt habe. Im Jahr 2017 wiederum sprach das Appellations­gericht in Ancona zwei junge Männer mit der unglaublichen Begründung frei, ihr Opfer sei zu unansehnlich, um Opfer einer Vergewaltigung zu werden. Als „gerissene Peruanerin“ wird die junge Frau in dem Urteilstext verunglimpft, sie habe die Täter „provoziert“ und zum Geschlechtsverkehr „verleitet“. Dieses Urteil allerdings wurde dann vom Kassationsgericht aufgehoben.

Die Zeit ist nicht stehen geblieben

Dass in Italien die Zeit nicht stehen geblieben ist, zeigten jedoch die empörten Reaktionen, die solche Urteile immer wieder hervorriefen. So versammelten sich nach dem „Jeansurteil“ Parlamentarierinnen aus allen politischen Lagern von links bis rechts zum gemeinsamen Protest, alle hatten eine enge Jeans an. Und so riefen Frauen­verbände zum Flashmob nach dem Freispruch in Ancona.

Wenig Empörung löste andererseits vor Ort eine Gruppenvergewaltigung aus, die sich im März 2007 in dem Küstenstädtchen Montalto di Castro, 100 Kilometer nördlich von Rom, zugetragen hatte. Acht Jungen, der jüngste 14, der älteste 17 Jahre alt, missbrauchten stundenlang ein 14-jähriges Mädchen. Als sie von der Staatsanwaltschaft zur Rechenschaft gezogen wurden, solidarisierte sich der ganze Ort mit ihnen. „Brave Jungs“ seien das, hieß es, für sie könne man „die Hand ins Feuer legen“.

„Einen Minirock angehabt“

Das Opfer wiederum habe ja „einen Mini­rock angehabt“, und am Nachmittag vor der Tat sei sie doch glatt „mit einem anderen zusammen gewesen“. Der Bürgermeister, ein linker Politiker, räumte den Täterfamilien ein Darlehen aus der Kasse der Kommune ein, damit sie die Anwaltskosten begleichen konnten, und statt Gefängnis gab es am Ende Sozialstunden für die Vergewaltiger.

Das Opfer ist gar keines, die Täter sind unschuldig, die Schlampe wollte es doch und hatte ihren Spaß, um dann haltlose Anschuldigungen in die Welt zu setzen – argumentativ stellt sich jetzt auch Beppe Grillo in diese unselige Tradition. Doch wie sehr diese Tradition bröselt, zeigten nicht zuletzt die Reaktionen aus den Reihen der Fünf Sterne.

Ziemlich einsam um die Grillos

So erklärte der als künftiger Chef der Bewegung designierte Exministerpräsident Giuseppe Conte, er verstehe „die Sorgen des Vaters“, schob dann aber sofort nach, darüber dürfe der Schmerz des vermutlichen Opfers und seiner Familie nicht vergessen werden. Die „Autonomie der Richterschaft“ sei zudem ein hohes Gut, und die „Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen“ sei „fundamental“ für die 5-Sterne-Bewegung.

Der Jugendministerin Fabiana Dadone, auch sie aus den Reihen der Fünf Sterne, blieb es dann vorbehalten, Grillo daran zu erinnern, dass auf Ini­tiative der von ihm gegründeten Bewegung die Frist für die Anzeige von Vergewaltigungsdelikten von sechs Monaten auf ein Jahr ausgedehnt wurde. „Nicht korrekt“ sei deshalb seine Beschwerde über die erst nach acht Tagen gestellte Anzeige gegen seinen Sohn. Vorbehaltlose öffentliche Solidarität erfuhr Grillo nur von einer Person – von seiner Frau, Ciros Mutter. Ziemlich einsam ist es um die Grillos; ihnen bleibt jetzt nur, den Prozess abzuwarten. Am Montag teilte die Staatsanwaltschaft mit, sie habe die Ermittlungen abgeschlossen.

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