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Ein Tag im Gerichtsflur

In der Türkei befinden sind derzeit 71 Journalisten und Medienarbeiter in Haft, seit Sommer 2016 waren rund 350 zeitweilig im Gefängnis – einschließlich des Autors

Von Deniz Yücel

Zwei Wochen nach dem blutigen Putschversuch vom Juli 2016 kam es in der Türkei zur ersten Verhaftungswelle gegen die Presse. 21 Journalistinnen und Journalisten wurden dem Untersuchungsrichter vorgeführt, meist frühere Mitarbeiter der islamischen Gülen-Bewegung nahestehenden Medien, Journalisten und Angehörige mussten auf dem Flur des Gerichtsgebäudes Çağlayan warten.

Dort saßen zum einen 30 Journalisten und Abgeordnete der Opposition, die sich vor allem Bülent Mumay, dem langjährigen Online-Chef der Tageszeitung Hürriyet, und einem festgenommenen weiteren Hürriyet-Kollegen verbunden fühlten. Bülent war einige Monate zuvor entlassen worden. Ein Regierungsblatt hatte seine Kündigung gefordert, und Hürriyet-Verleger Aydın Doğan, Eigentümer des größten Medienhauses des Landes, hatte nachgegeben. Am Ende der Anhörung sollte Bülent als Einziger frei kommen.

Dann gab es noch eine größere Gruppe Frauen mit knöchellangen Gewändern, farbigen Kopftüchern, teuren Schuhen und Sonnenbrillen. Da ich nicht nur für meinen Freund Bülent gekommen war, sondern auch für die Welt berichten wollte, versuchte ich, auch mit ihnen ins Gespräch zu kommen. „Diese Leute schreiben auf Twitter nur über Bülent Mumay“, empörte sich eine. „Aber die anderen sind auch Journalisten.“ Ihr Mann war Redakteur bei Zaman gewesen, dem Flaggschiff der Gülen-Medien.

Kurz danach kam eine andere Frau aus dieser Gruppe auf mich zu. „Sie dürfen daraus nichts zitieren, auch nicht in anonymisierter Form“, herrschte sie mich an. „Sie haben mir nicht zu sagen, worüber ich schreibe“, blaffte ich zurück. „Sie haben die Macht verloren, aber nicht die Arroganz der Macht“ – eine Anspielung darauf, dass die Gülen-Organisation einst eng mit Erdoğans Partei AKP verbündet war. Diesen Frauen war anzumerken, dass sie sich noch vor kurzem als Teil der Elite fühlen durften. Später tat mir meine schroffe Replik leid.

Deniz Yücel

ist Mitglied im Kuratorium der taz Panter Stiftung, Journalist bei der „Welt“, er arbeitete zuvor für dietaz und die „Jungle World“ . 2017/18 saß er wegen angeblicher Terrorpropaganda fast ein Jahr in türkischer U-Haft.

Kurz darauf kam ich mit der Journalistin Melis Alphan, die als eine von wenigen Hürriyet-Mitarbeitern gekommen war, mit einem Mann ins Gespräch. Mit seinem abgetragenen Anzug stand er verängstigt am Rand. Sein Schwiegersohn hatte im Zaman-Hauptstadtbüro gearbeitet. Nachdem sie von der Fahndungsliste erfahren hatten, war er mit seiner Tochter und seinem Schwiegersohn aus der westanatolischen Provinz nach Istanbul gereist, wo sich dieser den Behörden stellte.

Der Mann war ein pensionierter, einfacher Polizist. „Sie sollen jeden bestrafen, der mit dem Putsch zu tun hatte. Aber sie können doch niemanden dafür bestrafen, nur weil er in einer dieser Zeitungen gearbeitet hat. Das war doch ganz legal“, sagte er. Er war erstmals in seinem Leben in Istanbul. Vergeblich habe er versucht, einen Rechtsanwalt zu finden, sei überall abgewiesen worden. „Ich habe versucht, AKP-Politiker aus meiner Stadt zu erreichen: den Bürgermeister, die Abgeordneten unserer Provinz“. Er sei Mitglied der AKP und kenne sie persönlich. „Aber niemand nimmt meine Anrufe ab.“

Er rang mit den Tränen. Melis und ich brachten ihn zum Oppositionsabgeordneten Sezgin Tanrıkulu, der mit uns auf dem Gerichtsflur wartete. Vielleicht konnte er ihm helfen. Jetzt erst bemerkte ich, dass auch Melis feuchte Augen hatte. Ich wunderte mich, schließlich schrieb sie nicht nur regelmäßig über Mode, sondern oft über Gewalt gegen Frauen. Es konnte für sie nicht ungewöhnlich sein, mit Menschen zu reden, die schreckliche Dinge erlebt hatten. Sie muss meine Verwunderung bemerkt haben. „Wenn ich weinenden Menschen zuhöre, muss ich selber weinen“, sagte sie lachend und wischte sich die Träne weg.

„Der Druck auf Journalisten hat in der Türkei nicht nachgelassen“

Etwa zwei Jahre später, im Frühjahr 2018, verkaufte Aydın Doğan sein Medienhaus an einen regierungsnahen Unternehmer, dem eine Staatsbank mit einem großzügigen Kredit ausgeholfen hatte. Innerhalb weniger Wochen wurden rund 50 Journalisten der Mediengruppe entlassen oder kündigten von sich aus. Die erste war Melis Alphan. Sie wechselte zur Cumhuriyet, doch nach nur einem halben Jahr verließ sie das Blatt mit vielen ihrer neuen Kollegen, nachdem eine Clique von ehemaligen Mitarbeitern mit tatkräftiger Hilfe der Regierung die Leitung der Zeitung an sich gerissen hatte. Seither veröffentlicht sie vor allem auf ihren Social-Media-Kanälen und gelegentlich in unabhängigen Onlinemedien.

Mitte April stand die heute 43-Jährige erstmals selbst vor Gericht – wegen eines sechs Jahre alten Instagram-Postings. Im Frühjahr 2015 hatte sie ein Foto von den Feierlichkeiten zum persisch-kurdischen Neujahrsfest Newroz in der Stadt Diyarbakır gepostet und dazu „Frohes Newroz“ geschrieben. Damals war der Friedensprozess zwischen der PKK und dem türkischen Staat noch im Gange, weshalb viele türkische und internationale Medien über die friedlichen Feiern berichteten. Das Foto, das Melis geteilt hatte, hatte sie einer Nachrichtenagentur entnommen. Jetzt wirft ihr die Staatsanwaltschaft wegen dieses Postings „Propaganda für eine Terrororganisation“ vor und fordert bis zu siebeneinhalb Jahre Haft.

Ihr Fall zeigt, dass der Druck auf Journalisten nicht nachgelassen hat, selbst wenn inzwischen weniger in den Gefängnissen sitzen. Auch die beiden ehemaligen Zaman-Mitarbeiter, mit deren Angehörigen wir damals im Gerichtsflur gesprochen hatten, wurden nach vier Jahren Haft freigelassen. Mitte April 2021 befanden sich laut der Media and Law Studies Association (MLSA) 71 Journalisten und Medienarbeiter in türkischer Haft; rund 350 Journalisten waren seit jenem Sommer 2016 zeitweilig im Gefängnis.

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