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Berlin fährt Fahrrad. Und in Pandemiezeiten werden es immer mehr, die in die Pedale treten. Die Fahrradbranche verzeichnet gigantische Zuwächse. Noch sind die Lager gefüllt, aber die Nachfrage ist so groß, dass der Nachschub knapp werden könnte

Die Havelchaussee – nein, an keinem normalen Tag, sondern bei der ADFC-Fahrradsternfahrt 2019 Foto: Paul Langrock

Von Plutonia Plarre

Kurz vor Beginn der Dämmerung auf der Havelchaussee: Die Vögel haben den Abendgesang angestimmt. Hinter den Kiefern spiegelt sich die tief stehende Sonne im Wasser. Mitten in der Woche sind zu dieser Stunde kaum Autos unterwegs. Die Uferstraße gehört den Radfahrern. Allein oder in Kleingruppen strampeln sie zum Grunewaldturm hi­nauf. Mehr Männer als Frauen, viele auf Rennbikes, unter engen Trainingsanzügen zeichnen sich muskulöse Waden ab. Aber auch Menschen mit normalen Rädern und normaler Bekleidung zieht es nach Feierabend auf die Havelchaussee. Danach auf dem Pop-up-Fahrradweg durch die Kantstraße zurück in die Innenstadt fegen – was will man mehr? Rad fahren ist Freiheit und Lebenselixier, erst recht in Zeiten von Corona.

Mitte, Ende März beginnt die eigentliche Fahrradsaison. Spätestens wenn die Temperaturen zweistellig sind, geht in den Fahrradläden der Ansturm los. Aber was heißt Saisonbeginn? Viele Berlinerinnen und Berliner fahren das ganze Jahr über Rad. Die Pandemie hat den Trend zum Fahrrad nun aber richtiggehend beflügelt. An den Radverkehrzählstätten der Stadt sei im vergangenen Sommer eine Zunahme um 26 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres verzeichnet worden, teilte der ADFC mit. Es sei von einer Fortschreibung des Trends auszugehen.

Geradezu astronomisch sind die Zuwachsraten, die der Zweirad-Industrie Verband (ZIV) ­unlängst veröffentlicht hat: Der Umsatz mit Fahrrädern und E-Bikes habe in Deutschland im vergangenen Jahr den Wert von 6,44 Milliarden Euro erreicht. Das entspreche einem Plus von 60,9 Prozent gegenüber 2019.

Viele Leute haben das Rad neu für sich entdeckt. Andere machen den alten Drahtesel aus dem Keller wieder flott. Die Werkstätten haben mehr denn je zu tun – dabei hat der Sommer noch nicht begonnen. Seit Jahren erfreue sich das Fahrrad zunehmender Beliebtheit, sagt Christoph Schulz, Sprecher der Messe VeloBerlin. „Aber seit Corona geht die Kurve so steil nach oben wie die Infektionskurve.“ Die seit vielen Jahren stattfindende Messe ist eine Kommerzveranstaltung für die Fahrradbranche, aber sie hat auch einen politischen Anspruch.

Die Kehrseite der Medaille: Aufgrund der riesigen Nachfrage – auch in den USA – wird der Nachschub knapp. Bei Neurädern und Ersatzteilen gebe es immer mehr Engpässe, sagt. Hagen Stamm, Inhaber von BBF Bike. Das Unternehmen, Headquarter in Hoppegarten, ist der einzige Großhändler und Hersteller im Berliner Raum. „Das ist ein weltweites Problem“, so Stamm. „Wir hängen alle an der gleichen Werkbank Fernost.“ Zugearbeitet und montiert werde in Europa, Rahmen und Ersatzteile kämen aber hauptsächlich aus China, Taiwan, Kambodscha und Japan. Die Rohstofflieferanten und Produzenten kämen nicht mehr hinterher. Dazu komme die Transportproblematik. Es gebe zu wenig Schiffscontainer für den gestiegenen Bedarf, sagt Stamm. Die Transportkosten hätten sich bereits verfünffacht.

Als sich der Boom im letzten Jahr abzeichnete, hat BBF Bike wie andere Händler mehr Nachschub als üblich für 2021 geordert. „Aber auch die Vororder kommt später an“, sagt Stamm. Bei der Shimano-Gangschaltung aus Japan oder Federgabeln aus China gebe es mittlerweile Wartezeiten von bis zu 700 Tagen.

Ernst Steinhauer, Inhaber das Ladens „Rad der Stadt“ in der Prenzlauer Allee, warnt indes davor, sich von der Panik anstecken zu lassen. Viele Händler hätten Vorsorge getroffen, die Lager seien nicht leer. „Und selbst wenn: Man findet immer eine Lösung.“

Es ging los nach dem ersten Lockdown. Laufräder für Kinder, Hollandräder für die Fahrt zum Supermarkt, Rennräder, Trecking- und Moutainbikes, Lastenräder – alles geht seither weg wie warme Semmeln. „Lastenräder wollen in Berlin gerade alle haben“, hat Marie Viertmann festgestellt. Die 38-Jährige arbeitet bei Moniseur Vélo in der Friedrichstraße als Zweiradmechatronikerin.

Regelrecht explodiert ist aber die Nachfrage nach E-Bikes. 2020 wurden laut ZIV 43,4 Prozent mehr Elektroräder verkauft als 2019. Für zusätzlichen Schwung habe das Leasing von Dienstfahrrädern gesorgt. „Das E-Bike gilt längst nicht mehr als Rentnergeschoss“, sagt Christoph Schulz von VeloBerlin. Alle Altersgruppen und Geschlechter wollten heutzutage Elektrorad fahren. Auch die Businessfrau, die mehr als zehn Kilometer Weg ins Büro habe und dort nicht verschwitzt ankommen wolle.

Rad fahren ist Freiheit und Lebenselixier, erst recht in Coronazeiten

Insgesamt, so der Sprecher der Velomesse, habe die Verknappung natürlich zu einem Preisanstieg geführt. Der Trend gehe aber ohnehin dahin, dass sich die Leute deutlich bessere Räder leisteten. Wer früher 500 Euro für ein Rad gezahlt habe, lege inzwischen 1.000 Euro und mehr hin. „Das Fahrrad geht total ab.“

Wegen der anhaltenden Pandemie findet die Messe in diesem Jahr nicht im Mai, sondern erst am 2. und 3. Oktober statt. Auf dem Flughafen Tempelhof werden Händler dann Neu­heiten vorstellen, man kann probefahren, es gibt Radshows und politische Veranstaltungen; der ADFC gehört zu den Partnern.

Im jüngsten Fahrradklimatest des ADFC bekam Berlin für die Pop-up-Radwege den Sonderpreis der Kategorie Corona zugesprochen. Ansonsten belegte die Hauptstadt bei der Umfrage unter den 14 beteiligten Großstädten aber nur Platz 9. 19 Radtote hatte Berlin letztes Jahr zu beklagen, der ADFC spricht vom Negativrekord der letzten Jahre (siehe Seite 45).

Berlin sei mit den Pop-up-Fahrradwegen vorangegangen, sagt Schulz. „Aber das reicht nicht. Es muss sich was ändern, was die Infrastruktur und die Sicherheit betrifft.“ Als Trostpflaster, weil die Messe verschoben wurde, stellt VeloBerlin ab 13. April jeden Monat einen Themenschwerpunkt rund ums Rad ins Netz.