Corona und die Politik: Die Sorge um das Leben

Pandemien sind widersprüchlich: Der Staat wird zum Kümmerer, der kommandiert, vor allem aber freiwilliges Mittun braucht.

eine Zeichnung einer venezianischen Maske und einer medizinischen Maske die an der Wand hängen

Foto: Katja Gendikova

Lockdowns werden verhängt, Verordnungen erlassen, Regeln aufgestellt, jeden Abend beherrschen die Corona­schlagzeilen die Nachrichtensendungen und in Talkshows wird das Immergleiche geredet. Aber jenseits dieser Meta-Politik ist unser Alltag, die neue „Mikrophysik unseres Lebens“ – um nicht zu sagen, eine „Mikrobiologie“.

Schon das Wort „uns“ ist fragwürdig, da noch mehr als sonst sichtbar wird, dass es ein „Wir“ nicht gibt. So verschieden sind die Lebenslagen, nicht nur nach den soziologischen Großkategorien wie „arm“ und „reich“ oder „privilegiert“ und „unterprivilegiert“. Jeder Alltag ist anders, für ein achtjähriges Kind ist es anders als für eine Siebzehnjährige, der Single ist einsam und fürchterlich gelangweilt, die vierköpfige Familie, die in der Zweizimmerwohnung Distance-Learning betreibt, geht dagegen die Wände hoch. Tausende Lebenslagen, die alle unterschiedlich sind.

„Jetzt ist es nun einmal so. Das lässt sich nun einmal nicht ändern.“ Phrasen wie diese begleiten uns durch diese Monate, während deren wir unsere Leben einstellen. Alle machen sich heute um alle Sorgen, das ist jetzt normal, so wie wir jetzt leben. Umarmungen, Berührungen, Küsse, Gespräche, bei denen man sich lachend näherkommt, all das könnte jetzt eine tödliche Gefahr darstellen. Berührungen, Nähe, soziale Interaktionen, sie sind eine elementare Seite des Lebens, des Seins. Diese Berührungen verbinden diese Person und mich, aber jeden von uns auch mit vielen anderen, unbekannten Anderen, „und diese große Kette des Seins ist auch eine Kette des Todes geworden“ (Susan Sontag: „Wie wir jetzt leben“).

Wir merken, wie uns die informellen Begegnungen abgehen, gerade diese vielen belanglosen Gespräche, die uns unter normalen Bedingungen nicht wichtig erscheinen.

Innen leben ist schlecht fürs Innenleben. Wir sitzen unsere Zeit ab.

Zurück zur verordneten Hygiene

Pandemien waren immer schon Übergangzeiträume, teilweise mit revolutionären Wirkungen. Sie änderten das Verhältnis von Staat und Gesellschaft und das Funktionieren von beidem. Temporär, oft aber auch langfristig. Mit Blick zurück und Blick auf uns reiben wir uns die Augen. Heutige Containment-Politik „basiert auf traditionellen Methoden, die auf die staatliche Gesundheitspolitik während der Beulenpest zurückgehen: Ansteckungsfälle aufspüren, isolieren, in Quarantäne stecken, die Absage von Massenveranstaltungen, Überwachung Reisender, Empfehlungen für persönliche Hygiene, und Schutz durch Masken, Handschuhe, Mäntel“ (Frank M. Snowden).

Wir fühlen uns da ein wenig an jene Art Generäle erinnert, die neue Schlachten mit den Methoden früherer schlagen wollen, wenn wir Berichte wie von Daniel Defoe über die Pest in London aus dem Jahr 1665 lesen. Eine Gesellschaft in Furcht, die erstmals „rational“ zu reagieren versuchte. Die Obrigkeit erließ die Anordnung, „Leute in ihren eigenen Häusern abzusperren“; Staatsdiener hatten die Möglichkeit, „sich zwangsweise Eintritt (zu) verschaffen, bis die Art der Erkrankung festgestellt ist“; das Haus wurde abgesperrt, zwei Wächter für jedes Haus abgestellt, jedes verseuchte Haus wurde in der Mitte der Tür mit einem roten Kreuz bezeichnet und die Wächter hatten auch die Aufgabe, „die Eingeschlossenen mit dem Notwendigsten“ zu versorgen. In engen Gassen kehrten die Einwohner um, wenn sie Gefahr verspürten. Man achtete darauf, „sich mit kleinem Gelde (zu) versehen, um das Wechseln unnötig zu machen“. Die meisten Geschäfte lagen darnieder und die Armen hatten kaum mehr eine Möglichkeit, „ihr Brot zu verdienen“. In Droschken stieg praktisch niemand mehr, „weil man nie wusste, wer zuvor damit befördert worden war“.

Ohne die Pest wäre die Entstehung des absolutistischen Staates und einer rationalen, zentralisierten Verwaltung anders verlaufen. Seuchen wie die Cholera stärkten die Idee, dass nur ein Gesundheitssystem, das für alle funktioniert, das Individuum schützen kann. Es war die Geburt des öffentlichen Gesundheitswesens. Ansteckungsketten verbinden uns – wir werden als Gesellschaft noch mehr zu einem Organismus, als wir es ohnehin sind. Das Volk wurde, nachdem die Keime entdeckt waren, zu Sauberkeit erzogen. Als die Tuberkulose wütete, wurde der Besen durch den Wischmopp ersetzt, weil man lehrte, die Keime am Boden werden mit Besen nur aufgewirbelt. Seife, Wischmopp, Wasserleitung – alles Produkte von Seuchen.

Der autoritäre Zugriff auf das Individuum

Epidemien sind, wenn man so will, ein foucaultscher Moment. Sie stärken eine rationale Verwaltung, etablieren autoritären Zugriff auf das Individuum, zugleich aber auch paternalistische Effekte von Erziehung und Selbsterziehung, sanitäre Vorschriften und hygienische Ratschläge, deren Befolgung sozialer Kontrolle unterliegt, die aber wiederum auch den ­Individuen zur zweiten Natur werden sollen. Sie etablieren Gesundheitsinstitutionen vom Pesthaus über die Klinik bis zum Sanatorium, Forschungseinrichtungen später auch, und während der Epidemien und in ihrem Nachgang gehen sozialer Fortschritt und autoritärer Verwaltungsstaat ein seltsames Bündnis ein.

Michel Foucault nannte das „Biopolitik“, die ihren Urspruch darin hatte, dass der Staat sich überhaupt mit der Bevölkerung zu beschäftigen begann, von der Geburtenrate bis zur Volksgesundheit, und darauf achtete, dass Körper fit bleiben und deviantes Verhalten unterbunden wird, und zwar weniger, um Deviante zu bestrafen, sondern mehr wegen des damit verbundenen Effektes gegenüber allen anderen, nämlich der Etablierung eines gängigen Konsenses von „normalem Verhalten“.

Bevor der absolutistische Staat entstand, begegnete die Regierung den Bürgern vor allem strafend, letztendlich mit einer Todesdrohung. Die Pestära war der historische Übergang, als die „Sorge um das Leben“ plötzlich eine Aufgabe von Behörden wurde. Die Menschen in den Risiko­zonen wurden quarantänisiert, zugleich aber mit dem Nötigsten versorgt, von Staatsdienern, die von Haus zu Haus gingen und durch die Fenster nach der Gesundheit fragten.

All das ist eine Wechselwirkung von autoritärer Abrichtung und Disziplinierung, aber mehr noch von positiver Anreizsetzung, damit die Disziplin zur Selbstdisziplin wird, das Subjekt selbst begehrt, was von ihm begehrt wird. Darum, so formulierte Foucault einmal auf geniale Weise, „hätte zu viel regieren bedeutet, gar nicht zu regieren“.

Wer immer sich gefragt haben mag, wie die foucaultsche Beschreibung der „Disziplinarmacht“ (die also mit Befehl und Kommando arbeitet) mit der Konzeption der „Selbsttechniken“ zusammengeht (die genau das nicht tun, sondern auf das freiwillige Mittun der Beherrschten setzen) – in diesem Jahr haben wir die Antwort im Schnelldurchlauf begriffen und erfahren.

Wird nur befohlen, macht keiner mit. Wir haben in diesem Jahr der Ansteckung sehr genau beobachten können, wie wahr das ist. Der Lockdown selbst folgte dem „Pest“-Modell (Quarantäne, rigide Vorschriften), ist aber nur für den absoluten Notfall praktikabel und nicht mal für diesen auf längere Zeit, weil komplexe Gesellschaften undurchdringlich sind und man nicht an alle Ecken Polizisten hinstellen kann, sondern von der Zustimmung der Bevölkerung abhängig ist. Foucault spricht davon, dass die Macht produktiv ist, also nicht nur befiehlt und überwacht, sondern das Subjekt lockt und verändert, und er spricht von „Mikrobeziehungen von Macht“, die somit nicht einfach von oben nach unten wirken, sondern kreuz und quer, einer Mikrophysik der Macht.

Erst in dem Moment, in dem all das der politischen Herrschaft gelingt, „beginnt (etwas), was man die Macht über das Leben nennen kann“, meinte Foucault, und: „Ich glaube, das Recht, das zwischen Erlaubtem und Verbotenem unterscheidet, ist in Wirklichkeit nur ein relativ unangemessenes, irreales und abstraktes Machtinstrument. Konkret sind die Machtbeziehungen sehr viel komplexer.“

Kein Biopolitiker hätte der Bevölkerung je befehlen können, sich täglich zwei Mal die Zähne zu putzen. Es war von staatlicher Politik gewünscht, es wurde von Sozialreformern propagiert, sozialistische Zeitschriften forderten ordentliche Wohnbauten für die Armen, in denen es gute Bäder gab, danach wurde in Bildstrecken vorgeführt, wie man die richtige Alltagshygiene vollführt, und in Schulen wurde es den Kleinsten beigebracht.

Das Kommando allein produziert Widerstand, den ostentativ-wütenden oder die bloße, meckernde Nichtbeachtung von Regeln. Regeln müssen erklärt werden und sie müssen dem ratio­nalen Urteil standhalten, was sich auch deshalb als zunehmend schwierig erweist, da eine Vielzahl an Regeln auch eine „innere Logik“ benötigen (die jederzeit bestritten werden kann). Macht kann sich nicht darauf zurückziehen, zu unterdrücken, sie muss die große Mehrheit gewinnen und die Minderheiten, die nicht mittun, isolieren. Public Health und soziale Kontrolle ­gehen Hand in Hand. Der Begriff der „Selbstbeherrschung“ trifft das in seiner Vieldeutigkeit ziemlich genau. Die Schwierigkeit, in Lagen wie der unseren, besteht genau darin, dass praktisch jede der propagierten Normen unangenehm ist. Das setzt der Freude beim Mittun natürlich engere Grenzen, als wenn man die Menschen animiert, täglich ein warmes Bad zu nehmen, um angenehm zu riechen und folglich den Respekt zu genießen, der damit einhergeht.

„Jeder würde dafür sterben, berührt zu werden und menschlichen Kontakt zu haben“, schreibt der New Yorker Fotograf und Essayist Bill Hayes in seinem Buch „How We Live Now“. Erinnern wir uns noch?, fragt Hayes. Das letzte Mal, als ich einem Fremden die Hand geschüttelt habe. Das letzte Mal, als ich Menschen tanzen gesehen habe. Das letzte Mal, als ich an einem Tresen lehnte, nachts in einem Club war. Das letzte Mal, als ich im Theater war. Das letzte Mal, als ich jemanden küsste. Das letzte Mal, als ich mit anderen im Aufzug fuhr ohne Angst.

Auch dieses Jahr 1 der pandemischen Gesellschaft war ein spannendes Sozialexperiment, das nur den Nachteil hat, dass wir in diesem Versuch die Beobachter und zugleich die Laborratten sind.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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