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„Überwachung führt zur Verdrängung“

Die Sozialarbeiterin Anja Merkel hat Verfassungsbeschwerde gegen das sächsische Polizeigesetz eingelegt

Anja Merkel arbeitet bei der Mobilen Jugendarbeit in Plauen. Die Verfassungsbeschwerde gegen das sächsische Polizeigesetz hat sie zusammen mit fünf weiteren Personen sowie der Gesellschaft für Freiheitsrechte eingereicht.

Interview Sarah Ulrich

taz: Frau Merkel, Sie haben Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen das Anfang 2020 in Kraft getretene neue sächsische Polizeigesetz eingelegt. Ein ungewöhnlicher Schritt für eine Sozialarbeiterin.

Anja Merkel: Ja, ich habe so etwas bislang auch noch nicht gemacht. Aber es war einfach notwendig.

Warum?

Das sächsische Polizeigesetz wird auch hier im Landesarbeitskreis Mobile Jugendarbeit Sachsen e. V. schon länger diskutiert, denn es hat starke Auswirkungen auf die Sozialarbeit und die Adressat:innen. Die Frage ist, wie wir noch unsere Arbeit machen, aber gleichzeitig Datenschutz und Schweigepflicht einhalten und die Adres­sa­t:in­nen vor eventuell ungerechtfertigten Maßnahmen schützen können. Und, welche Auswirkungen das Gesetz für unsere Adres­sa­t:in­nen in ihrem Leben hat. Außerdem ist unklar, wie das Gesetz in der Praxis angewendet wird.

Welche Auswirkungen hat das Gesetz denn konkret auf Ihre Arbeit?

Einer der problematischen Punkte für den Bereich der sozialen Arbeit ist die „Überwachung von Fahrzeugen im grenznahen Bereich“. Davon ist ein Großteil Sachsens betroffen. Auch wir haben ein Fahrzeug, mit dem wir Treffpunkte von Jugendlichen anfahren. Wir legen großen Wert darauf, dass wir für die Jugendlichen ein vertraulicher Ansprechpartner sind, und haben auch eine Schweigepflicht – allerdings kein Zeugnisverweigerungsrecht. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Daten unserer Adres­sa­t:in­nen nicht in falsche Hände geraten, um die Leute zu schützen. Aber wenn der Bewegungsradius von den Fahrzeugen erfasst und ausgewertet werden kann, lässt das Rückschlüsse darauf zu, wo wir hinfahren. Wir sind ja für alle da, also auch für Jugendliche, die Drogen konsumieren oder Straftaten begangen haben. Natürlich sind diese Personen durchaus interessant für die Polizei.

Mit welcher Konsequenz?

Zunehmende Überwachungsmaßnahmen führen zur Verdrängung von Bevölkerungsgruppen, die vielleicht weniger erwünscht sind. Da ist zum Beispiel auch das Alkoholverbot in den Innenstädten. Man kann das diskutieren, aber letztlich führt es zu Verdrängungsprozessen. Jenen, die das betrifft, wird dadurch der soziale Boden weggezogen. Viele sind obdachlos oder können nicht auf Familienstrukturen zurückgreifen. Die Treffpunkte sind oft die einzigen sozialen Kontakte, die sie haben.

Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein, dass das Gericht Ihrer Beschwerde zustimmt?

Meine Hoffnung wäre, dass das Verfassungsgericht das Gesetz politisch neutral und streng am Maßstab der Grundrechte überprüft. Ich habe vollstes Vertrauen, dass bestimmte Sachen schon kritisch gesehen werden. Die sächsische Landesregierung wäre dann in der Pflicht, da auch nachzubessern.

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