COVID-19 in Berlin: Mit Links durch die Krise

Es gibt politische Perspektiven jenseits von Regierungsgehorsam, Antisemitismus und Sozialdarwinismus.

eine weiße Grafik zeigt verbundene Punkte und einen Stern

Wedding 65 bleibt rot Foto: Hände weg vom Wedding

„Als ob täglich ein Flugzeug über Berlin abstürzt“, sagte eine Frau aus Pankow kürzlich in die Fernsehkamera. „Seit Monaten. Und nichts passiert. Das ärgert mich.“ Wie viele vor ihr ist diese Frau zum Stierbrunnen am Arnswalder Platz gekommen, um eine Kerze anzuzünden für die Toten der Pandemie.

An verschiedenen Orten in der Stadt wird mittlerweile in dieser Weise öffentlich getrauert – um Menschen, die man mochte, liebte, vielleicht aber auch gar nicht kannte. Das sind keine sentimentalen Bewältigungsrituale.

Die Kerzen, sie sind auch ein Protest. Und zwar nicht nur gegen die Menschenverachtung der rechtsoffenen „Querdenker*innen“. „Das ärgert mich“, sagte die Frau am Stierbrunnen und die Vermutung liegt nahe, dass das Ärger ist über eine Politik, die mit Coronatoten zu leben gelernt hat.

Teils auch der Wirtschaft zuliebe. Der „großen“ Wirtschaft zuliebe. Denn bei der kleinen, der Gastronomie und Kulturwirtschaft scheint den Regierenden ein langes Herunterfahren ja möglich.

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„Es kann so nicht weitergehen.“

Schon im September hatte der Kollege Frédéric Valin seinen Job in der Pflege aufgegeben, den er eigentlich liebte. „Wir sollten ertragen und schweigen, wir Held’innen des Hilfesystems. Held’innen sind immer stumm. Nein, einfach. Nein“, hat er seine Entscheidung begründet und gewarnt, dass viele Pfle­ge­r*in­nen es ihm gleichtun werden.

„Es kann so nicht weitergehen. Ich kann nicht mehr“, sagt ein Freund am Telefon, dessen seit Monaten überfällige Operation ins Ungewisse verschoben ist und dessen Schmerzen von Tag zu Tag zunehmen. Er, der sonst in der ganzen Stadt unterwegs ist, um die politischen Anliegen von Menschen mit Behinderung voranzutreiben, fühlt sich jetzt selbst hilflos. Seine große Geduld ist am Ende.

„Wie die allermeisten behinderten Menschen lebe ich nicht im Heim, sondern in meinem eigenen Zuhause“, sagt wiederum die Journalistin Rebecca Maskos in einem Videostatement. Seit 10 Monaten isoliert sich Maskos weitgehend, weil eine Covid-19-Infektion ihr Leben gefährden würde.

„Wenn die Impfverordnung nicht geändert wird, bedeutet das für mich und viele andere mit schweren Beeinträchtigungen: Warten bis Spätsommer, bis alle systemrelevanten Berufsgruppen durchgeimpft sind und die dritte Welle mit mutierten Coronaviren durchgerauscht ist.“

Eine politische Perspektive

Maskos fordert: Ein klares Verfahren, wie die jüngere Risikogruppe geimpft werden kann und eine solidarische Pause. Wie der Initiator des Gedenkens am Stierbrunnen, wie Frédéric Valin, wie der Freund der auf seine Operation wartet, wie der Autor dieses Textes, wie bis dato 74.000 Menschen aus verschiedenen Ländern, hat Rebecca Maskos den Aufruf #ZeroCovid: Für einen solidarischen europäischen Shutdown unterschrieben.

Ihnen allen geht es nicht um autoritäre oder totalitäre Fantasien, auch nicht darum, Arbeitsplätze zu gefährden, sondern um eine Perspektive. Eine existentielle, emotionale, wissenschaftsbasierte und ja, durchaus linke Perspektive – jenseits von trägem Regierungsgehorsam, Antisemitismus und Sozialdarwinismus.

Eine solche Perspektive will auch die Stadtteilinitiative Hände weg vom Wedding bieten. Beim Online-Solidaritätstreff unter dem Titel „Hart am Limit – Soziale Arbeit im Kapitalismus“ soll es um die Frage gehen: „Wie können wir den neoliberalen Härten gegenüber uns und unserer Arbeit eine Solidarität als Ar­bei­te­r*in­nen entgegensetzen?“ (Mittwoch, 20. Januar, 19:30 Uhr, Anmeldung unter arbeitskampf@unverwertbar.org).

Hände weg vom Wedding bietet auch einen digitalen Stadtteilspaziergang unter dem Titel „Mit Links durch die Krise“ an. Themen dabei sind unter anderem Obdachlosigkeit in der Coronakrise, der Arbeitskampf des nicht medizinischen Personals der Charité und die „Kommunikationsstelle“ der Berliner Coronaschwurbler, die im Wedding ansässig ist (unverwertbar.org).

Rechte Propaganda

Auch in Lichtenberg hat Schwurbelei und rechte Propaganda in der Pandemie zugenommen. Bei einem Online-Infoabend wird das Lichtenberger Register die Vorfallszahlen vorstellen und anhand einiger Beispiele extrem rechte Aktivitäten und Organisierungen im Bezirk umreißen (Freitag, 22. Januar, 19 Uhr, ujz.tumblr.com).

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Redakteur im Politik-Team der wochentaz. Schreibt öfter mal zu Themen queer durch die Kirchenbank. Macht auch Radio. Studium der Religions- und Kulturwissenschaft, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule. Mehr auf stefan-hunglinger.de

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