: Notstand in London:das große Sterben
Das mutierte Coronavirus führt in Großbritannien zu einer verheerenden „dritten Welle“ der Pandemie, trotz scharfer Einschränkungen. Gesundheitspersonal arbeitet am Anschlag
Aus London Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
„Meine 24 Stunden in der Notaufnahme waren ein Augenöffner“, erzählt eine Londonerin auf Facebook. Zwei Tage lag die Mittvierzigerin im Krankenhaus, eine von über 7.000 derzeit an Covid-19 erkrankten Londoner*innen.
„Ich sah Krankenwagen, die Schlange standen. In den Kabinen der Notaufnahme wurden doppelt so viele Patient*innen untergebracht wie normal. Für sechs Patien*innen standen vier Betten zur Verfügung“, schildert sie. „Einer Corona-Erkrankten neben mir, die an einer chronischen Erkrankung leidet, wurde gesagt, es könne nicht viel für sie getan werden, sollte sich ihre Lage verschlechtern – mit anderen Worten: keine künstliche Beatmung. Das ist kein Hoax, Leute.“
Großbritannien steckt tief in der dritten Welle der Coronapandemie, nicht zuletzt aufgrund der ansteckenderen Virusmutation B.1.1.7. 1.035 Tote wurden am Samstag gemeldet, am Vortag sogar 1.325. Seit Jahresbeginn lag die Zahl der Neuinfektionen jeden Tag bei über 50.000. In London liegt die 7-Tage-Inzidenz bei über 1.000 pro 100.000 Einwohner.
Bereits seit Dienstag befindet sich das ganze Land erneut im strengen Lockdown. In London rief Bürgermeister Sadiq Khan am Freitag den „Major Incident“-Status aus. Dieser Notstand greift, wenn die Notdienste so überlastet sind, dass spezielle Maßnahmen getroffen werden müssen, wie beispielsweise die Hinzuziehung von Feuerwehr oder Armee.
Ein Gang durch die fast leeren Straßen Londons, auf denen merklich mehr Krankenwagen unterwegs sind als gewöhnlich, bestätigt den Ernst der Lage. Die meisten Londoner*innen kennen inzwischen Menschen, die entweder Covid-19 haben oder daran gestorben sind.
Medizinische Kräfte würden ohne Pause am Rand ihrer Kapazitäten arbeiten, berichtet die Ärztegruppe DAUK (Doctors’ Association UK). Obendrein sind 46.000 von ihnen gerade selber krankgeschrieben. Unter diesen Umständen wird die Behandlung anderer verschoben, darunter auch Krebskranker. In Gloucester in Südwestengland beschrieb eine Pflegekraft die Schichten als noch nie erlebte Hölle, während Personal im südenglischen Milton Keynes erzählte, auf ihrer Intensivstation liege niemand mit Covid-19 über 70, sondern lauter jüngere Menschen, darunter eine 36-jährige Schwangere. Im großen St George’s Hospital in Tooting im Süden Londons beobachtete Agenturfotografin Victoria Jones Pflegepersonal „am Ende“, ausgelaugt und entmutigt. „Sie vermuten, dass das Schlimmste noch bevorstehen könnte“, twitterte sie.
Die britischen Schulkinder sind seit Dienstag zu Hause und lernen online, wenn dafür die technischen Voraussetzungen bestehe. Nur jene mit speziellen Bedürfnissen oder aus Familien, in denen die Erziehungsberechtigten in systemrelevanten Berufen arbeiten, können, falls nicht anders möglich, in die Schule.
Wer nicht in diesen Bereichen arbeitet, muss zu Hause bleiben. Vor die Tür darf nur, wer für den täglichen Bedarf einkaufen muss oder sich sportlich betätigen will. Dabei müssen Brit*innen in ihrem Wohnbezirk bleiben und dürfen sich mit keiner Person außerhalb ihrer eigenen Haushalte treffen. Gesundheitsminister Matt Hancock bezeichnete das Zuhausebleiben als wichtigsten Faktor überhaupt. Für das Nichtbefolgen werden von der Polizei verschärft Bußgelder in Höhe von 200 Pfund (222 Euro) verhängt.
Unterdessen wird weiter versucht, das britische Impfprogramm so schnell wie möglich weiter hochzufahren. Bis jetzt sind im Vereinigten Königreich etwa 1,5 Millionen Menschen geimpft worden, darunter am Samstag auch die Queen. 200.000 Impfungen pro Tag soll es jetzt geben, zwei Millionen pro Woche binnen kürzester Zeit, damit bis Mitte Februar alle Menschen ab 70 Jahren sowie alle Bewohner*innen von Alten- und Pflegeheimen vakziniert sind.
Für Erleichterung sorgte die Meldung, dass der Pfizer-Impfstoff auch gegen die B.1.1.7-Mutation wirkt. Außerdem entdeckten Studien auf britischen Intensivstationen, dass die Verabreichung bestimmter Medikamenten gegen rheumatische Arthritis die Sterberate bei schwer an Covid-19 Erkrankten um 24 Prozent verringern kann. Es beweise, so Hancock, dass Großbritannien bei innovativen Behandlungen ganz vorne stehe.
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