Auf einer Bühne mit rotem Hintergrund stehen mehrere Dutzend Menschen in komplett weißen Schutzanzügen, auch der Kopf und das Gesicht sind davon eingehüllt. Vor ihnen steht im Dunkeln Publikum

Perfekt choreografierte Inszenierung: Eine Ausstellung in Wuhan zeigt den Kampf gegen Corona Foto: China daily/reuters

China nach der Coronapandemie:Wuhan, ein Jahr danach

Im einstigen Corona-Epizentrum herrscht wieder Normalität. Die chinesische Regierung nutzt die Erfolgsgeschichte für ihre Zwecke.

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24.12.2020, 12:19  Uhr

Wie jeden Morgen grüßt Dong Hao­kun beiläufig den ­alten Pförtner am Eingangstor, ehe er den mit Werbung zugepflasterten Fahrstuhl betritt. Im 28. Stock angekommen, sperrt der 37-Jährige die Metalltür seines Tanzstudios auf. Gleißende Morgensonne durchflutet den Raum mit Licht, durch die bodentiefen Fenster reicht der Blick von der geschäftigen Jianghan-Straße bis hin zum Ufer des Jangtse-Flusses. „In Wuahn bin ich geboren, aufgewachsen und hier habe ich auch studiert“, sagt Dong sichtlich stolz, während er mit kerzengrader Haltung auf die Dächer seiner Heimatstadt blickt.

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Dass Wuhan vor einem Jahr zum Synonym für eine Pandemie geworden ist, die das gesamte Weltgeschehen von Grund auf verändert hat, scheint in Momenten wie diesen ein eher abstrakter Gedanke zu sein. Mehrere Monate liegt die letzte registrierte Infektion in Wuhan zurück. Wer durch die Flaniermeilen, Einkaufszentren oder Nachtmärkte der 11-Millionen-Metropole schreitet, wird nur mehr durch die Masken auf den Gesichtern der Menschen an das Coronavirus erinnert.

Auch das Leben von Tanzlehrer Dong Haokun wird wieder von ganz gewöhnlichen Alltagspflichten bestimmt: In wenigen Minuten werden die ersten Kundinnen in sein Studio im 28. Stock strömen, für Unterricht in orientalischem Bauchtanz.

Angesichts des Normalzustands der zentralchinesischen Stadt wirken die Schlagzeilen vom letzten Januar geradezu surreal: Bilder von erschöpften Ärzten gingen um den Globus, offene Leichensäcke in überfüllten Krankenhausgängen und Menschenmengen in Panik. Keine Bevölkerung hat wohl einen derart drastischen Lockdown über sich ergehen lassen müssen wie Wuhan in den darauf folgenden Monaten: Über zehn Wochen lang waren die verbliebenen sechs Millionen Einwohner in ihren Wohnungen eingesperrt. Weder Busse noch Autos sind mehr auf den Straßen gefahren, sämtliche Autobahnzufahrten wurden abgeriegelt.

Auslandsstudium in Deutschland abgesagt

Wie also blicken die Wuhaner knapp ein Jahr später auf das kollektive Trauma zurück? Dong Haokun atmet einmal tief durch. „Jeden Morgen war damals das Erste, was wir taten, die Anzahl von Neuinfektionen nachzuschauen und wie viele Leute gestorben sind“, erinnert er sich. Doch das Leben musste trotz allem weitergehen. Yoga und Meditationsübungen haben seinen Geist beruhigt, mit einem zweiten Standbein als Online-Devisenhändler konnte er während des Lockdowns sogar ein wenig dazuverdienen.

Natürlich habe die dunkle Zeit des Lockdowns aber auch Narben hinterlassen. Dong Haokuns 90-jährige Großmutter erlitt am 2. März einen Herzinfarkt, seither ist sie regungslos ans Bett gefesselt. „Wie eine Pflanze“, sagt er: „Ich bereue es, sie zuvor nicht noch einmal gesehen zu haben. Ich kann mir nicht mal sicher sein, ob sie mich heute überhaupt noch erkennt“, sagt er.

Allles normal? Dong Haokun gibt in seinem Studio wieder Tanzunterricht Foto: Fabian Kretschmer

Nur einen Steinwurf von Dongs Tanzstudio entfernt zeigt sich Wuhan, eine selbst in China eher unscheinbare Industriestadt, von seiner charmantesten Seite: Im alten Kolonialviertel werden die begrünten Gassen von historischen Art-Déco-Gebäuden und Street-Art-Kunstwerken gesäumt, am Flussufer des Jangtse lassen Senio­ren ihre buntbemalten Drachen steigen, und im Geschäftsviertel des Bezirks Hankou ziehen Hunderte Baukräne neue Wolkenkratzer in den blauen Dezemberhimmel. Erst bei näherer Betrachtung kann man die geschlossenen Ladenzeilen erkennen – von Geschäften, die den Lockdown nicht überlebt haben.

„Letztes Jahr hatten wir noch feste Ziele und Träume im Leben, aber jetzt geht es erst mal ums Überleben“, sagt Wang Jun, ein schlaksiger 20-Jähriger, der sich vor allem für amerikanischen Basketball, deutsche Sportwagen und ausgefallene Sneaker-Schuhe interessiert. Kurz vor dem Lockdown hat Wang sein Diplom zum Kfz-Mechatroniker abgeschlossen, im Sommer hätte er nun für seinen zweiten Abschluss an die Fachhochschule Stralsund gehen sollen. Die Pandemie, die mittlerweile in Deutschland wütet, hat ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Viele von Wang Juns Klassenkameraden aus Wuhan, die ebenfalls nach Europa wollten, mussten ihre Pläne auf Eis legen – ein ironischer Schwenk der Geschichte. „Einige haben sich in der Zwischenzeit von der Armee verpflichten lassen“, sagt Wang.

Narrativ ohne Grautöne

Er selbst hat mit seiner Freundin im Souterrain eines englischen Jugendstilhauses ein hippes Wohnzimmer-Café eröffnet. Die beiden bieten Latte macchiato und Franziskaner-Weißbier an, viele Gäste kommen aber vor allem wegen „Mao Mao“, „Xiaodi“ und „Boss“ – drei ehemaligen Straßenkatzen. Während Wang Jun gerade Nürnberger Bratwürste zubereitet und von seinem Lieblings-Basketballteam der „Golden State Warriors“ spricht, lässt er wie beiläufig einen bemerkenswerten wie archetypischen Satz fallen: „Durch den Lockdown haben wir gesehen, dass das chinesische System sehr gut darin ist, eine Pandemie zu meistern. Viele Ausländer reden zwar von Freiheit und dass sie jeden Tag rausmüssen. Aber das Ergebnis ist, dass man so das Virus eben nicht kontrollieren kann.“

Wang steht bei Weitem nicht alleine mit seiner Meinung da. Während in fast jedem Land der Welt die chinesische Staatsführung im Coronajahr an Sympathiepunkten eingebüßt hat, konnte sie innerhalb der eigenen Landesgrenzen ihre Stellung weiter festigen – wegen, nicht trotz der Pandemie.

Die Lobeshymnen aufs eigene System zeigen, wie perfekt die Propaganda des Zensurapparats funktioniert

Natürlich lässt sich ein Jahr nach Ausbruch des Virus festhalten, dass Chinas Regierung mit ihren drastischen, aber unheimlich effizienten Maßnahmen das Infektionsrisiko im Land fast ausgelöscht hat. Seit Monaten registrieren die Behörden nur vereinzelte Ansteckungen, die sofort durch gezielte Lockdowns und Massentests lokal eingegrenzt werden können. Darauf kann die Bevölkerung zu Recht stolz sein, schließlich hat sie mit Disziplin und Gemeinschaftssinn zum epidemiologischen Erfolg erheblich beigetragen.

Gleichzeitig jedoch zeigen die Lobeshymnen­ aufs eigene System auch, wie perfekt die Propaganda des Zensurapparats funktioniert. Denn die chinesische Regierung hat nicht nur das ­Virus ­kontrolliert, sondern ebenfalls das ­Narrativ darüber: Wuhans Kampf ist zu einer ­heroischen Erfolgsgeschichte ohne ­jegliche Grautöne erklärt worden.

Erzählt wird diese eine halbe Autostunde nördlich von Wuhans Stadtzentrum entfernt, in einem überdimensionalem Messezentrum. „Bitte sprechen Sie nicht mit den Leuten, Interviews sind verboten“, sagt die Rezeptionistin, nachdem sie das Journalistenvisum des ausländischen Korrespondenten inspiziert hat. Was in den fußballfeldgroßen Ausstellungsräumen folgt, ist eine perfekt choreografierte Inszenierung der Kommunistischen Partei als Retter des Volks. Bereits am Eingang begrüßt ein überdimensionaler Staatschef Xi Jinping die Besucher, sein Konterfei wird alle paar Meter zu sehen sein. Zwischen Krankenhausbetten, Rettungswagen und dokumentarischen Fotos lugt immer auch die Fahne der Partei hervor.

Auf Informationstafeln wird die wenig subtile Botschaft mit dem Vorschlaghammer eingebläut: Die Partei mit Xi an der Spitze hat den „historischen“ Kampf gegen die Epidemie „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ geleitet. „Der strategische Erfolg hat die starke Führung der Kommunistischen Partei Chinas und die bedeutsamen Vorteile des sozialistischen Systems weiter gefestigt“, heißt es an anderer Stelle.

Dass die Regierung jedoch zu Beginn der Pandemie Virusproben vernichten ließ und warnende Ärzte mit einem Maulkorb versehen hat, wird mit keinem Wort erwähnt. Auch die Bürgerjournalisten, die lediglich aufgrund ihrer Berichterstattung in Wuhan seit Monaten in Gefängniszellen ausharren müssen, werden unter den Teppich gekehrt.

„Natürlich hat die Regierung nach dem Lockdown das Virus erfolgreich eingedämmt, aber dennoch ist eine solche Ausstellung nichts weiter als eine vereinfachende Heldengeschichte“, sagt die Sozialarbeiterin Guo Jing, die im letzten November nach Wuhan gezogen ist. Dass der Staat die Geschichtsschreibung über den Covid-Kampf vollständig kontrolliere, glaubt die 29-Jährige nicht: „Die persönlichen Erfahrungsberichte, die die Menschen auf sozialen Medien veröffentlicht haben, werden nicht aus dem Gedächtnis verschwinden. Viele Geschichten haben trotz der Kontrolle und Zensur ihren Weg ins Internet gefunden“.

Normal, aber nicht wie vorher

Guo Jings „Wuhan-Tagebuch“ zählte zu den populärsten Geschichten der Stadtbewohner: In 77 Einträgen hat sie die Zeit vom 23. Januar bis zum 8. April dokumentarisch festgehalten. „Ich wusste nicht, was zu tun ist, als ich aufwachte und vom Lockdown erfuhr“, beginnt der erste Eintrag: „Freunde haben mir dazu geraten, meine Vorräte aufzustocken. Reis und Nudeln sind beinahe ausverkauft.“

Nahezu ein Jahr später erzählt die Aktivistin von den gesellschaftlichen Nebenwirkungen jener Zeit: „Der Lockdown hat meiner Meinung nach Frauen viel stärker getroffen – angefangen bei den Haushaltspflichten und der Kinderbetreuung, die meist bei den Frauen hängen blieb“, sagt Guo. Auch wenn es keine belastbaren Zahlen zu dem Thema gebe, habe im Frühjahr auch die häusliche Gewalt deutlich zugenommen. Viele Ehefrauen seien während des Lockdowns ihren gewalttätigen Partnern hilflos ausgeliefert gewesen, und viele Nachbarn hätten das Problem schlicht als Privatangelegenheit ignoriert. Mit Online-Webinaren hat Guo Jing versucht, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Gemeinsam mit Bekannten haben sie Handbücher in der Nachbarschaft verteilt, um über Notrufhotlines zu informieren.

Das Gefangensein in den eigenen vier Wänden gehört jedoch in Wuhan längst der Vergangenheit an. Selbst die Krankenhäuser operieren wieder auf Normalbetrieb, wie der Ortsbesuch in einem Universitätsspital im Süden der Stadt zeigt: Ein einzelner Pförtner mit roter Armbinde kontrolliert die „Corona-App“ der Besucher, in der Eingangshalle warten Dutzende Patienten dicht an dicht gedrängt auf ihre Wartenummer.

Eine Ärztin, die anonym bleiben möchte, führt durch die hektischen Gänge in ihr Büro. Dort stapeln sich die Geschenkpakete, welche sie von dankbaren Patienten nach wie vor erhält. Musste die Endfünfzigerin noch im Frühjahr über Tod und Leben entscheiden, hat sich ihr Arbeitsalltag längst wieder normalisiert. „Doch die Pandemie hat das Denken der Leute stark verändert“, meint die Medizinerin: „Freunde, die ich zuvor nur ein Mal im Jahr gesehen habe, rufe ich nun regelmäßig an. Auch mit meinen Kollegen treffe ich mich oft und weiß das zu schätzen. Und die Blume am Wegesrand, die ich wohl früher ignoriert hätte, schaue ich mir mittlerweile mit voller Aufmerksamkeit an.“

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