Therapeutin über Psyche im Shutdown: „Entlastung ist nur kurzfristig“

Psychisch Erkrankte, Paare, Singles: Der „Lockdown light“ kann sich auf Menschen unterschiedlich auswirken. Psychotherapeutin Kristina Schütz erklärt.

eine ältere Frau füttert Tauben

Abstand halten, Kontakte reduzieren, gut für die Eindämmung des Virus, aber nicht für die Psyche Foto: Cecilia Fabiano/dpa

taz: Frau Schütz, wir befinden uns wegen der Coronapandemie jetzt in einer zweiten Phase der Kontaktbeschränkungen, dem sogenannten Lockdown light. Wie erleben die Menschen diese Maßnahmen im Unterschied zu den Beschränkungen in der ersten Phase?

Kristina Schütz: Die Arbeit mit depressiven Patienten war noch nie so schwierig wie jetzt. Die klassische antidepressive Therapie beruht ja auf dem Aufbau von Tagesstruktur, von positiven sozialen Aktivitäten, von Kontakten. Vieles ist da jetzt nicht möglich. Im ersten Lockdown war alles noch sehr neu, da beobachteten manche Kolleginnen und Kollegen und ich eine Zunahme der Angststörungen. Jetzt, in der zweiten Phase, verstärken sich eher die depressiven Symptome.

Die Kanzlerin Angela Merkel ruft derzeit dazu auf, Kontakte zu beschränken, also andere Menschen zu meiden. Was hat das für psychologische Folgen, dass die Zuwendung zu anderen Menschen, die doch eigentlich auch in der Therapie als heilend gilt, jetzt plötzlich zur Bedrohung wird?

Dass eine Nähe jetzt plötzlich schädlich sein kann, dieses Paradoxon, das ist ein Riesenproblem. Für junge Erwachsene ist es ein großes Thema, sie wollen auf keinen Fall Auslöser oder Teil einer Infektionskette sein oder gar die Eltern anstecken. Das hängt auch davon ab, ob es Risikopatienten, Menschen mit Vorerkrankungen in der Familie gibt oder ob man einen Fall von Covid-19 schon live erlebt hat in der Verwandtschaft. Diese Ambivalenz erleben auch Angehörige mit Verwandten im Pflegeheim, wenn man die Mutter nur noch draußen besuchen kann oder nur so halb erlaubt und immer das Risiko einer Ansteckung mitschwingt.

Internationale Metastudien haben gezeigt, dass jüngere Menschen offenbar psychisch besonders unter der Pandemie und ihren Folgen leiden.

Das überrascht mich nicht. Ich erlebe das bei meinen jüngeren Patienten. Bei den Studierenden ist das ganze Leben weg, das Studium ist digital, man begegnet sich nicht mehr an der Universität, viele Nebenjobs fallen weg. Man trifft sich sonst in der Uni, am Abend vielleicht in Lokalen, das fällt alles weg. Jüngere haben ja oft auch noch keine stabile Partnerschaft.

Haben die Menschen durch den ersten Lockdown nicht schon Kompensationen entwickelt für die Kontaktsperren? Man hört ja, dass die Baumärkte voll seien, manche Leute haben angefangen, mit Youtube zu Hause Gitarre zu lernen.

Die Leute haben schon während des ersten Lockdowns Dinge gemacht, die sie sonst nicht unbedingt getan hätten, zum Beispiel die Wohnung renoviert, Gerümpel zum Wertstoffhof gefahren. Das Digitale hat sich stark entwickelt, die Menschen machen Sport über ­Youtube. Man muss aber sehen, dass eben nicht alle und insbesondere nicht depressive Menschen leichten Zugang zu diesen digitalen Angeboten haben. Es ist eben ein großer Unterschied, ob ich einen festen wöchentlichen Termin mit einer präsenten Leiterin in einem Sportkurs habe oder nur zu Hause allein vor einem Bildschirm turnen kann.

Es gibt Menschen mit sozialen Phobien, die sagen, der Lockdown sei für sie eine Erleichterung, weil die anderen Leute jetzt auch nicht mehr so viele Kontakte pflegten wie sonst und man sich daher nicht mehr so als Außenseiter fühle.

Beim ersten Lockdown haben Patienten mit Burn-out mal gesagt, sie fühlten eine Entlastung durch die Beschränkungen. Das ist aber jetzt, wo es länger dauert und die zeitliche Perspektive ungewiss ist, nicht mehr so. Wenn Depressive oder Menschen mit sozialen Phobien sich nicht mehr so anders erleben wie Nachbarn oder Freunde, mag das kurzfristig eine Entlastung sein. Langfristig aber führt es zu einer Verstärkung des Problems, denn man arbeitet ja nicht an einer Lösung, sondern vermeidet sie.

Leiden Alleinstehende noch mal besonders unter den Maßnahmen zum Infektionsschutz?

Alleinstehende sind in besonderem Maße auf strukturierte Begegnungen, wie zum Beispiel auf den Elterntreff, auf Vereine, auf Sportgruppen angewiesen. Das fällt jetzt alles weg. Alleinstehende, auch ältere Patienten, sind davon besonders betroffen. Jetzt, im Winter kann man nach der Arbeit am Abend auch nicht mal eben den Park aufsuchen um einfach nur andere Menschen zu sehen, die dort spazieren gehen. Wer andere Leute sehen will, geht dann wohl eher in den Supermarkt.

Paare, die zu zweit zusammenleben, sind zwar nicht allein, hocken aber auch eng aufeinander.

Beim ersten Lockdown, als auch die Schulen geschlossen waren und beide Elternteile die Betreuung übernehmen mussten, bedeutete dies viel Stress für die Paarbeziehungen. Wir haben den Paaren damals geraten – und das gilt auch jetzt noch – die Erwartungen aneinander herunterzuschrauben, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, Aggressionen wenn möglich nicht auszuagieren und sich bewusst eine Zeit zu zweit und eine Zeit für sich zu nehmen und dies auch zu unterscheiden. Es ist auch ein Mythos, zu glauben, dass ein Paar jetzt eine besondere Nähe erlebt, viel Zeit intensiv miteinander verbringt und automatisch mehr Sex hat. Andererseits aber erleben viele Paare im Lockdown eine neue Wertschätzung der Partnerschaft.

Werden die Kontaktbeschränkungen denn im Grunde akzeptiert von den Menschen?

ist niedergelassene Psychotherapeutin in Lehre in Niedersachsen. Sie ist Mitglied im niedersächsischen Landesvorstand der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV).

Wir nehmen im Kollegenkreis wahr, dass der kontroverse Mediendiskurs bei den Patienten teilweise eine große Unsicherheit, auch Aggressivität und Ärger hervorrufen. Diese Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass man alles hinterfragt, macht vielen zusätzlich Angst.

Wie lässt sich denn am besten eine Resilienz, eine Widerstandskraft angesichts der Beschränkungen entwickeln?

Wir versuchen auf der praktischen Ebene, Möglichkeiten, die da sind, zu nutzen. Dazu gehört zum Beispiel, kleinere Aktivitäten zu planen, spazieren zu gehen, gesund zu kochen und zu essen, Musik zu hören, Telefonkontakte zu verstärken, sich mit Freundinnen oder Freunden zu treffen für einen Spaziergang auf Abstand, Möglichkeiten im Digitalen zu entdecken. Es kann hilfreich sein, längere Perspektiven zu entwickeln, sich zu sagen, dass die Pandemie mal ein Ende haben wird. In der Therapie arbeiten wir daran, wie ich lerne, Einstellungen zu verändern, nicht in negative Gedankenspiralen zu geraten. Die Aussicht auf eine Impfung ist für viele Menschen da eine große Erleichterung.

Tausende von Menschen haben inzwischen schon einen positiven Coronatest erlebt oder sind sogar schwer an Covid-19 erkrankt. Wie verarbeitet man das?

Es zeigt sich, dass schwer an Covid-19 Erkrankte danach ein höheres Risiko haben, Traumasymptome zu entwickeln, weil es ja eine lebensbedrohliche Erkrankung ist. Schlafstörungen, Wiedererleben, eine tiefe Verunsicherung gehören zu diesen posttraumatischen Symptomen. Aber es gibt noch keine langfristige Forschung dazu, es ist alles noch zu frisch.

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