Wut nach der Blutnacht

In Nigerias größter Stadt Lagos hat die Armee auf friedliche Demonstranten geschossen, die sich einer Ausgangssperre widersetzten. Die Protestbewegung spricht von „Massaker“

Ikeja, Lagos, am Abend des 20. Oktober Foto: Benson Ideabuchi/afp

Von Katrin Gänsler, Cotonou

Lagos kommt nicht zu Ruhe. Nach der Horrornacht von Lekki, dem #LekkiMassacre, bestätigt ein Bewohner des Viertels, das sich am Rande von Nigerias größter Stadt entlang der Atlantikküste nach Osten zieht, der taz: „Das Militär ist noch da. Über andere Gegenden sagen Freunde, dass weiterhin Schüsse zu hören sind.“ Die Künstlerin DJ Switch hat auf Twitter ein Video gepostet, in dem sie die Sicherheitskräfte anklagt: „Sie schießen. Wir bringen jetzt ein paar Leute ins Krankenhaus.“ Wenig später brennt in Lagos der private Sender Television Continental. Er gehört dem früheren Gouverneur von Lagos, Bola Tinubu; der Politiker der Regierungspartei gilt als einer der einflussreichsten Strippenzieher im Land und als „Godfather of Lagos“. Ob die Brandstiftung das Werk von Demonstrant*innen oder von Kriminellen war oder gar eine Inszenierung von Staatsseite, ist nicht klar.

Die Spekulationen überschlagen sich seit der blutigen Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Die Mautstation Lekki war in den vergangenen Tagen zum Zen­trum der seit Wochen andauernden Antipolizeiproteste #EndSARS und #EndSWAT in Nigeria geworden, die längst Proteste gegen die Regierung geworden sind. Am Dienstagabend, nachdem die Behörden offiziell eine Ausgangssperre verhängt hatten, schossen dort Sicherheitskräfte auf Demonstrant*innen. Bereits am Abend spricht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International von „glaubwürdigen, aber beunruhigenden Beweisen für übermäßigen Einsatz von Gewalt, die zum Tod von Demonstrant*innen an der Lekki-Mautstelle in Lagos geführt hat“. Auf Twitter machen Videos von blutüberströmten Protestierenden die Runde, der Hashtag lautet erst #LekkiProtest, dann #LekkiMassacre. Mitunter ist von zwölf Toten die Rede und von unzähligen teils schwer Verletzten.

Die Landesregierung von Lagos von 28 Verletzten und bestätigt gar keine Toten. Am Mittwochmittag twittert Gouverneur Babajide Sanwo-Olu, dass eine Person gestorben sei. „Ein isolierter Fall.“ Es sei nicht klar, ob es sich überhaupt um einen Demonstranten handele.

Sanwo-Olu hatte die Ausgangssperre über Lagos sehr spontan verhängt, am Dienstagnachmittag. Sie galt ab 16 Uhr, also fast ab sofort. Man könne nicht weiter zusehen, wie „Brandstifter, Gauner und Anarchisten weiterhin unter #EndSARS protestieren, um Chaos in den Staat zu bringen und Leben und Eigentum der Bürger*innen mutwillig zu stören“, so der Gouverneur, der seit 2019 im Amt ist. Die Bürger*innen sowie friedliche Demonstrant*innen forderte er auf, sich an die Ausgangssperre zu halten.

Als noch enttäuschender gilt das Verhalten der nigerianischen Zentralregierung von Präsident Muhammadu Buhari im fernen Abuja. Zu den Vorfällen in Lagos schweigt sie bisher. Sie hatte sich schon an den vergangenen Tagen zuvor rargemacht.

„Sie schießen. Wir bringen ein paar Leute ins Krankenhaus“

DJ Switch

Dabei wecken Soldat*innen, die auf Zivilist*innen schießen, vor allem bei der älteren Bevölkerung Nigerias schlechte Erinnerungen. Afrikas Riesenstaat mit rund 200 Millionen Einwohner*innen hat mehrere Staatsstreichs und brutale Militärdiktaturen erlebt; Buhari selbst führte bereits zwischen 1983 und 1985 eine Militärjunta und ging damals nicht zimperlich mit seinen Gegnern um.

Der Jurist und Menschenrechtsexperte Collins Okeke aus Lagos geht nicht davon aus, dass sich die aktuelle Situation so entwickelt. „Viele Menschen sind besorgt. Wir haben aber demokratische Institutionen“, sagt er der taz. Gleichwohl hätte die Situation sehr viel besser gehandhabt werden können. „Das ­Militär hätte nicht involviert sein dürfen.“ Nicht vergessen werden dürfe außerdem, dass viele Proteste der vergangenen Tage friedlich verlaufen seien. Collins fordert eine Untersuchung der Ereignisse von Lekki. Schon das wäre für Nigeria ungewöhnlich.

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