Auswärtiges Amt über die Türkei: Einige Grundrechte „ausgehebelt“
„Nahezu vollständig gleichgeschaltete“ Medien und eine „dysfunktionale“ Justiz: Der Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei fällt extrem negativ aus.
Die vom Auswärtigen Amt regelmäßig für die wichtigsten Herkunftsländer erstellten Lageberichte sind eine wichtige Entscheidungshilfe im Asylverfahren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Ausländerbehörden, aber auch Gerichte nutzen sie zur Beurteilung der Lage im Herkunftsland. Das 31 Seiten umfassende aktuelle Papier ist auf den 24. August datiert und bildet den Stand vom Juni ab.
Knapp 10.800 Türkinnen und Türken beantragten im vergangenen Jahr Asyl in Deutschland. Rund jeder Zweite erhielt hierzulande Schutz, wenn man Entscheidungen ausklammert, die sich etwa aus rein formalen Gründen erledigt haben.
Situation für MigrantInnen wird milder beurteilt
Wen die Regierung in Ankara als Anhänger der Gülen-Bewegung einstuft, der muss auch mit juristischer Verfolgung rechnen. Laut Bericht genügt als Indiz bereits ein Abonnement bestimmter Medien, die Nutzung einer bestimmten Bank oder einer speziellen Kommunikations-App. Die Türkei macht den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch von 2016 verantwortlich.
Auch im Ausland behält die Türkei nach Einschätzung des Auswärtigen Amts Kritiker im Blick. „Es kann davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere (auch vermeintliche) PKK- und Gülen-Anhänger, im Ausland ausspähen, ebenso wie sie Tätigkeiten von in Deutschland registrierten Vereinen beobachten.“ Die kurdische Arbeiterpartei PKK ist in der Türkei als Terrororganisation eingestuft und in Deutschland verboten.
Generell sei die türkische Justiz mit Terrorvorwürfen rasch bei der Hand. Schon „öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei“ könne den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die Justiz wird als „in weiten Teilen dysfunktional“ und teils politisch beeinflusst beschrieben. „Darüber hinaus wurden einzelne Richter nach kontroversen Entscheidungen suspendiert oder (straf)versetzt, woraufhin andere Richter gegen die gleichen Angeklagten zum politisch opportunen Ergebnis kamen.“
Milder beurteilt das Auswärtige Amt die Situation für Migranten – die Türkei beherbergt laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR weltweit die meisten Flüchtlinge und ist ein zwar schwieriger, aber wichtiger Partner für die EU in der Migrationspolitik. Nach offiziellen Angaben leben dort aktuell knapp 4 Millionen registrierte Flüchtlinge, davon 3,6 Millionen Syrer, die vorübergehenden Schutz genießen.
Die Behörden seien überlastet, wenn es um die Einzelfallprüfung nichtsyrischer Anträge gehe. Registrierte Flüchtlinge haben Anspruch auf medizinische Versorgung und dürfen im Prinzip arbeiten – das sei in der Praxis aber so schwierig, dass die meisten allenfalls schwarz arbeiteten, heißt es weiter.
Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl
Das Auswärtige Amt verweist auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen zu Misshandlungen von Flüchtlingen durch Sicherheitskräfte und über erzwungene Unterzeichnungen einer Erklärung zur freiwilligen Ausreise, merkt aber an: „Es ist nicht erkennbar, dass dies eine systematische Praxis darstellt. UNHCR evaluiert die Flüchtlingspolitik der Türkei auch im internationalen Vergleich tendenziell positiv.“
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl sieht das völlig anders. „Die Türkei ist eine Blackbox, was den Umgang mit Schutzsuchenden angeht“, beklagt Geschäftsführer Günter Burkhardt. Generell stehen in der Türkei auch Menschenrechtsorganisationen unter staatlichem Druck, was ihre Arbeit erschwert.
„Es ist skandalös, dass Deutschland und die EU solch einem Unrechtsregime Schutzsuchende anvertrauen“, erklärte Burkhardt. „Die türkischen Behörden geben Geflüchteten kaum Möglichkeiten, sich registrieren zu lassen. Damit bleiben sie in der Illegalität und sind von Abschiebung permanent bedroht.“ Die Türkei sei kein Rechtsstaat. Das treffe auch Geflüchtete.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern