Änderung des EU-Freizügigkeitsgesetzes: Regierung misstraut Sozialbehörden

Ein Gesetzentwurf der schwarz-roten Bundesregierung will Hartz IV für EU-Bürger erschweren. Entscheiden sollen künftig die Ausländerbehörden.

Schatten von drei Personen, die mit Kinderwägen hintereinander laufen

Hartz IV für die Betreuung von Kindern? Das wird einigen EU-Bürgern verwehrt Foto: Felix Kästle/dpa

BERLIN taz Die Bundesregierung will Sozialleistungen für EU-Bürger erschweren. Möglicherweise macht der Bundestag dabei aber nicht mit. In dieser Woche soll die Entscheidung fallen.

Es geht um Fälle wie diesen: Ein unverheiratetes rumänisches Paar kommt mit seinen zwei Kindern im Alter von vier und acht Jahren nach Deutschland. Der Mann arbeitet als Kraftfahrer, die Frau betreut den Nachwuchs. Weil der Mann zu wenig verdient, beantragt die Frau für sich Hartz IV-Leistungen. Diese werden aber verwehrt, denn schon seit 2007 besteht für EU-Bürger ein Leistungsausschluss, wenn sie sich nur zur Arbeitssuche oder zur Betreuung von Kindern in Deutschland aufhalten.

Allerdings hat das Bundessozialgericht (BSG) 2013 in einem Grundsatzurteil einen Ausweg für derartige Fälle gewiesen: Der Leistungsauschluss gilt nicht für EU-Bürger, die wegen eines anderen Grundes Anspruch auf Aufenthalt in Deutschland haben. Dies können etwa humanitäre Gründe sein oder der Schutz der Familie. Die Sozialbehörden und die Sozialgerichte müssen jeweils eine „fiktive Prüfung“ anderer Aufenthaltsgründe vornehmen.

Diese BSG-Rechtsprechung will die Bundesregierung nun aber aushebeln. Die „fiktive Prüfung“ eines Aufenthaltsrechts durch Sozialbehörden soll nicht mehr genügen, um EU-Bürgern, die noch nie in Deutschland gearbeitet haben, Anspruch auf Hartz IV-Leistungen zu geben.Künftig soll es vielmehr auf ein von einer Ausländerbehörde festgestelltes Aufenthaltsrecht ankommen. Die Bundesregierung befürchtet offensichtlich, dass die Sozialbehörden zu großzügig sind und will deshalb die eigentlich zuständigen Ausländerbehörden entscheiden lassen.

Kritik von Sozialverbänden

Heftige Kritik an der geplanten Änderung kam vom Paritätischen Wohlfahrtsverband: „Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wäre durch die Gesetzesänderung künftig ausgeschlossen.“ Die Rechte besonders schutzbedürftiger Personen seien bedroht. Ausländerbehörden würden sich für derartige Anträge von EU-Bürgern unzuständig fühlen, befürchtet Paritätsexpertin Natalia Bugaj-Wolfram. Es gehe um Tausende von Einzelschicksalen.

Der Koordinierungskreis gegen Menschenhandel (KOK) erinnerte an den Fall einer traumatisierten bulgarischen Zwangsprostituierten, die sich in einem Frauenhaus in Nordrhein-Westfalen stabilisieren konnte. Sie bekam aufgrund einer „fiktiven Prüfung“ ihres Aufenthaltsrechts doch noch Hartz IV-Leistungen. Man dürfe vulnerable Personen nicht überfordern, betont der KOK, indem nun auch noch die Ausländerbehörden eingeschaltet werden müssen.

Die Kritik der Praxis ist in der Politik angekommen. Der Bundesrat erklärte im Juli in einer Stellungnahme, es sei „sinnvoll“, die Möglichkeit der fiktiven Aufenthaltsprüfung durch Sozialbehörden zu erhalten. Die SPD-Abgeordnete Sylvia Lehmann sagte bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs Anfang September, die Kritik des Bundesrat an dem Gesetzentwurf sei „sozialpolitisch plausibel.“ Die Linkspartei hat im Bundestag inzwischen den Antrag gestellt, auf die Neuregelung zu verzichten.

Bundestag stimmt über Gesetzentwurf ab

Die geplante Änderung des EU-Freizügigkeitsgesetzes ist in einem größeren Gesetzespaket versteckt. Es soll vor allem den in Deutschland lebenden Briten nach dem Brexit Bestandsschutz geben. Dieses Vorhaben finden alle Fraktionen gut. Umstritten ist nur die Abschaffung der „fiktiven Prüfung“.

Doch nun geht es Schlag auf Schlag: An diesem Montag, 5. Oktober, findet im Bundestags eine Expertenanhörung statt. Am Mittwoch sollen etwaige Korrekturen im Innenausschuss beschlossen werden und schon am Freitag will der Bundestag im Plenum abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung abstimmen.

Sylvia Lehmann, die zuständige SPD-Abgeordnete, macht den Kritikern Hoffnung: „Ich könnte mir vorstellen, dass wir uns in der Koalition darauf einigen, auf die Änderung zu verzichten.“

Auch von anderer Seite könnte in dieser Woche noch Bewegung in die Diskussion kommen. Am Dienstag will der Europäische Gerichtshof über den Hartz IV-Ausschluss bestimmter EU-Bürger entscheiden. Es geht dann um einen arbeitslosen Polen, der in Deutschland zwar ein Aufenthaltsrecht hat, weil seine zwei Kinder hier zur Schule gehen, der aber keine Hartz IV-Leistungen erhält.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.