Kinderarmut hat viele Gesichter: „Wir müssen anders über Kinderarmut sprechen“

Lars Graß vom Verein Rückenwind im Bremerhavener Stadtteil Lehe ist genervt von der stereotypen Berichterstattung über arme Kinder.

Ein Kind liegt bäuchlings auf dem Boden, links ein TV, im Hintergrund Graffiti an der Wand

Hausaufgaben auf dem kalten Fußboden: Ist das jetzt Armut? Foto: Harald Hoffmann

Bremerhaven-Lehe an einem Montagnachmittag. Auf der Goethestraße, einer Allee mit Kopfsteinpflaster, Bäumen und Gründerzeithäusern, an denen teilweise der Putz abblättert, ist mehr los, als mancher verlassener Hauseingang vermuten lässt. Es fahren kaum Autos, die meisten Menschen sind zu Fuß unterwegs. Das lauteste Geräusch ist hier Möwengeschrei. Ein Hauseingang kündigt an allen Fenstern an, dass hier bald ein Café entsteht. Durch gemeinsames Engagement im Stadtteil seien einige der Schrottimmobilien bereits restauriert worden, erzählt Lars Graß, der im Verein „Rückenwind“ Kinder im Stadtteil betreut und auch bei den Hausaufgaben hilft. Der Eingang zum „Rückenwind“ befindet sich an der Ecke eines Wohnhauses. Der große Raum im Erdgeschoss inklusive Küche mit niedrigen Arbeitsplatten ist voll mit Spielen und Bildern, die Pinnwand übersät mit Zetteln zu den Corona-Regeln. Auf den Tischen stehen Experimentierkästen und kleine Gläser mit Plastikspinnen. Das Thema dieser Woche im Ferienprogramm lautet „Forschen und Experimentieren“.

taz: Herr Graß, sprechen wir genug über Kinderarmut?

Lars Graß: Ich glaube, wir müssen anders darüber sprechen und auch nicht nur dann, wenn Studien, wie die der Bertelsmann-Stiftung rauskommen. Das Thema ist in vielen Städten ein permanentes Problem. Kinderarmut ist eines dieser Themen, die in den Fokus geraten und dann nach ein, zwei Wochen wieder wegfallen – im Sinne von „Schön, dass wir drüber gesprochen haben“.

Wie wollen sie „anders“ über das Thema sprechen?

Die Diskussion muss sachlicher werden. Wenn es um Kinderarmut geht, kommt oft der Stadtteil Bremerhaven-Lehe. Dann wird eine Familie genommen und mit dem Brennglas geschaut, wie schlecht es dieser Familie geht. Aus meiner Sicht werden Familien damit nicht nur vorgeführt, sondern aus ihnen wird ein repräsentatives Bild des Stadtteils gemacht, das so einfach nicht stimmt. Für mich ist wichtig, dass wir sowohl als Einrichtung als auch als Stadtteil nicht nur den Armutsstempel bekommen. Es gab hier mal einen Besuch von Journalist:innen, bei dem die Kinder gefragt wurden, ob sie sich arm fühlen, das hat kein einziges Kind bejaht.

Spielte dabei nicht vielleicht auch Scham eine Rolle?

Möglich, ich glaube aber auch, dass man nicht pauschalisieren darf. Arm ist hier auch eine Definitionssache, und als sie gefragt wurden, waren die Kinder mit ihren Freunden zusammen an einem Ort, mit dem sie eher glückliche als unglückliche Momente verbinden. Deshalb finde ich etwa auch den Begriff „sozial schwach“ unmöglich.

Nun sind aber die Zahlen über Kinderarmut im Stadtteil Bremerhaven-Lehe besonders hoch, oder?

Lars Graß

43, ist im Vorstand des Vereins „Rückenwind“ für Leher Kinder e.V. und arbeitet dort in der Kinderbetreuung.

Ja, und Statistiken dürfen nicht verschwiegen werden. Trotzdem wünsche ich mir eine differenziertere Diskussion über das Thema Armut, statt sich nur eine Familie rauszupicken. Ich würde mir wünschen, dass mehr in den Vordergrund gebracht wird, was eigentlich gemacht wird, um diesem Problem entgegenzutreten. Es darf nicht vergessen werden, wie viele engagierte Leute hier im Stadtteil Dinge bewegen und wie wichtig es ist, dass es in Einrichtungen und Institutionen ein langfristiges Engagement gibt. Das Wichtigste ist bei diesem Thema die soziale Teilhabe.

Was bedeutet für Sie soziale Teilhabe?

Es geht darum, Zugänge und Möglichkeiten zu schaffen. Das umfasst alles Mögliche – Musik, Sport, oder den Besuch von Veranstaltungen. Wir haben Kinder hier, die gerne Sport machen wollen und in der Vergangenheit vielleicht auch schon mal damit angefangen haben, dann aber aus unterschiedlichen Gründen nicht weitermachen. Vielleicht, weil die finanzielle Unterstützung fehlt, oft haben solche Dinge aber auch viel mit Zutrauen zu tun. Etwa bei den Kindern, die hier bei „Rückenwind“ Sport machen, obwohl sie vorher kein Interesse hatten und erst dabei merken, dass es ihnen gefällt. Ähnlich ist es beim Spielen von Instrumenten.

Aber auch Kinder, die nicht von Kinderarmut betroffen sind, haben all diese Möglichkeiten nicht automatisch.

Wir unterscheiden nicht zwischen den Kindern, die kommen. Auch, weil wir die Dinge nicht auf eine Art bewerten wollen, die uns nicht zusteht. Anreize zu setzen gilt im Übrigen auch für Erwachsene, sonst verengt sich der eigene Horizont. Es geht es auch darum, dass die Kinder sich nicht abschotten und nur die Schule und die eigenen vier Wände sehen. Zur Experimentierausstellung Phänomenta zu gehen oder Schlittschuhlaufen dient dazu, Interessen zu wecken. Nicht jede:r hat außerdem Zugang zu einem Garten, geschweige denn zu einer Werkstatt. Bei uns im Garten haben die Kinder die Hütten zum Übernachten selbst mitgebaut.

Der Verein „Rückenwind für Leher Kinder e.V.“ wurde 2003 von Bremerhavener:innen unter dem Motto „Ich kann das! Kinder positiv stark machen & in Gemeinschaft glücklich leben lernen“ gegründet.

Sitz des Vereins ist das Goethequartier in Bremerhaven-Lehe, er ist Treffpunkt und Anlaufstelle für alle Kinder im Stadtteil zwischen 6 und 14 Jahren.

Zu den Angeboten gehören die Hausaufgabenbetreuung und ein tägliches kostenloses Abendessen, daneben gibt es zahlreiche Aktivitäten zu Sport, Kunst, Musik und dem Umgang mit Computern.

Zu etwa 92,5 Prozent finanziert sich der Verein aus Spenden- und Projektgeldern, den restlichen Anteil finanziert die Stadt Bremerhaven.

Ausgezeichnet wurde „Rückenwind“ unter anderem mit dem Diversity-Preis, als „beispiellose Initiative gegen Kinderarmut“ bekam der Verein das Bundesverdienstkreuz.

Woran mangelt es besonders?

An den bekannten Dingen wie Geld, materiellen Sachen und der Teilhabe. Aber es fehlen auch Modelle, um Familie und Beruf besser zu vereinbaren, damit die Situation in den Familien gelassener ist. Ich bin kein Experte, aber ich denke, gerade da müssen wir noch einige Schritte voran kommen.

Sie sind eine Anlaufstelle für Kinder. Haben Sie auch Kontakt zu den Eltern?

Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, gab es da fast keinen Kontakt. In den letzten Jahren ist das Interesse der Eltern aber immer weiter gestiegen und der Austausch stetig gewachsen. Mittlerweile kennen wir viele Elternteile. Dabei geht es auch um Fragen zu Schule, Betreuung und anderen Anlaufstellen. Wenn wir wissen, dass bei einigen eine bestimmte Sache fehlt, etwa ein Schulranzen, versuchen wir da etwas zu vermitteln. Besonders­ in letzter Zeit kamen besonders viele Fragen, die wir versuchen, so gut wie möglich zu beantworten, die zum Teil unsere Möglichkeiten aber auch einfach­ überschreiten. Entscheidend bei uns sind die niedrigschwelligen Angebote für Kinder.

„Rückenwind“ bietet auch ein tägliches, kostenloses Abendessen an. Wie wichtig ist das für die Kinder?

Die Frage der Versorgung ist nach wie vor existenziell, durch mehr und mehr Ganztagsschulen hat sich die Situation da aber deutlich verbessert. Es ist elementar, dass Schulen und Kindertagesstätten auch Essen anbieten. Das war vor einigen Jahren noch anders, da hatten wir viele Kinder aus Schulen ohne Essensangebot, für die das Abendessen bei uns die erste richtige Mahlzeit des Tages war. Trotz der Verbesserung spürt man, dass es bei einigen Familien am Ende des Monats immer noch knapp wird, denn dann sind mehr Kinder da als Mitte des Monats.

Was bräuchte es auf struktureller Seite, um diesem Thema zu begegnen?

Ich kann nicht für die einzelnen Familien sprechen. Die Leistungen, die Eltern bekommen, besonders die, die nicht berufstätig sind, sind aber sicher nicht angemessen für 2020. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Anlaufstellen wie „Rückenwind“ mit möglichst wenig Fluktuation nachhaltig existieren, denn die Kinder haben an diesen Orten oft Bezugspersonen. Auch hier spielt die finanzielle Absicherung eine Rolle: Es wäre schön, sich nicht den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, wie es weitergeht, gerade wenn durch Corona die Spenden möglicherweise einbrechen.Wenn das Thema etwa durch Studien wieder in den Vordergrund rückt, gibt es zwar immer einen Aufschrei über Kinderarmut. Die Spendenbereitschaft für Institutionen und Einrichtungen, die auf diese Mittel angewiesen sind, steigt aber höchstens bei denen, die sich ohnehin schon für das Thema engagieren.

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