Migrantische Arbeit: Die Krise der Ausbeutung

In der Coronakrise kommen ausbeuterische Arbeitsmodelle an ihre Grenzen. Die Bedingungen für migrantische Arbeiter*innen sind schon lange prekär, jetzt werden sie sichtbarer. Bei der jüngsten Ansteckungswelle im Schlachtbetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück wurden mehr als 1.000 Menschen mit Covid-19 infiziert. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) möchte Werkverträge in der Fleischindustrie verbieten. Vier weitere Perspektiven auf Verbesserungen

Protokolle Irina Chevtaeva, Aida Ivan, Helena Kaufmann

Die Beraterin
: „Sie müssen ihre Rechte kennen“

Foto: Minor

„Ich berate seit zwei Jahren rumänischsprachige Arbeit­neh­mer*innen in den sozialen Medien zu Arbeits- und Sozialrecht. Die Beratung findet etwa in der Baubranche, Landwirtschaft oder der Fleischindustrie statt. Wir versuchen die Personen dort zu erreichen, wo sie sich bewegen. Wenn sie Fragen auf Facebook stellen, dann beantworten wir diese dort.

Es geht auch um Empowerment. Die Leute müssen wissen, dass sie die gleichen Rechte wie deutsche Angestellte haben, obwohl sie nicht so gut Deutsch sprechen. Nur so können sie um ihre Rechte kämpfen.

In den sozialen Medien mobilisieren sich die Leute, um sich gegenseitig zu helfen oder sich einfach zu informieren, um ihre Probleme zu lösen. Wir bekommen jetzt deutlich mehr Fragen, uns erreichen vier bis fünf Mal mehr Menschen als vor der Coronakrise. Als Studentin habe ich in der Gastronomie gearbeitet, vermittelt von einer Leiharbeitsfirma. Ich war enttäuscht darüber, wie wenig Respekt der Arbeitgeber zeigte. Das hat mich motiviert, mich mit den Rechten von Menschen aus dem EU-Ausland zu beschäftigen.“

Nicoleta Bădulescu, 28, arbeitet bei „Minor“ im Projekt „MB 4.0“, das von der EU-Gleichbehandlungsstelle gefördert wird

Der Aktivist
: „Biografien, die gelingen wollen“

Foto: Kath. Kirchengemeinde Lengerich

„Die Schwere der Arbeit, die Arbeitszeiten und auch die Bezahlung in der Fleischindustrie sind ausbeuterisch. Die Arbeiter*innen leben in Sammelunterkünften, in Bruchbuden, die wegen der prekären Situation der Sanitäranlagen schon vor Corona gesundheitsgefährdend waren. Es gibt in der Lebensmittelbranche aber auch Unternehmen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind und auf Leiharbeit und Werkverträge verzichten.

Denn diese Menschen sind mehr als nur wichtige Arbeitskräfte. Es sind Biografien, die gelingen wollen. Ich neige nicht zur Brutalität, aber ich muss manchmal gucken, wie ich mit Hassgefühlen umgehe, wenn ich etwa den Corona-Ausbruch in Rheda-Wiedenbrück sehe. In diesem Ausmaß hätte ich mir das nicht vorstellen können. Leider glaube ich, dass das nicht der letzte Ausbruch gewesen sein wird. Es wird möglicherweise Leben kosten und die Bevölkerung wird unter den notwendigen Beschränkungen leiden. Das sind Schäden, die vermeidbar gewesen wären. Da spüre ich manchmal eine ohnmächtige Wut.“

Peter Kossen, 52, Pfarrer in Lengerich und Aktivist, Gründer des Vereins „Aktion Würde und Gerechtigkeit“

Die ehemalige Leiharbeiterin
: „Wir müssen darüber sprechen“

„Fünf Euro Stundenlohn, das habe ich als Leiharbeiterin in Deutschland bekommen. Das Problem ist überall dasselbe: Demütigung. Als ich anfing, hatte ich keine Krankenversicherung und wir haben willkürliche Geldstrafen von rumänischen Vorgesetzten bekommen. Ich wurde mit vielen Problemen konfrontiert und das war auf eine bestimmte Weise auch gut: So habe ich gelernt, Lösungen zu finden. Jetzt kann ich mit dieser Erfahrung anderen helfen.

Viele Betroffene verstehen nicht, dass Sachen nur dann geändert werden können, wenn sie darüber sprechen. Von uns bekommen Arbeitsmigrant*innen Hilfe, aber sie müssen dafür die Initiative ergreifen und zu uns kommen. Wir wollen, dass die Arbeitsmigrant*innen unter normalen Bedingungen arbeiten. Ihre Reaktion? Sie können kaum glauben, dass sie Unterstützung bekommen, ohne etwas dafür zurückgeben zu müssen. Viele bleiben in Verbindung mit uns und melden sich auch aus ihrer Heimat. Ich will meinen Namen nicht in der Zeitung lesen, denn ich will nicht, dass meine ehrenamtliche Aktivität mein persönliches Leben beeinflusst.“

Ehemalige Leiharbeiterin, 37, engagiert sich für

Arbeitsmigrant*innen

Der Vermittler
: „Deutschland braucht diese Mitarbeiter“

Foto: HR Xperience

„Die Großunternehmen, darunter alle Ketten, benötigen sehr dringend Mitarbeiter. Der Staat unterschätzt die Situation, auch in der Fleischindustrie. Die Branche lebt davon, dass dort Werkverträge und Leiharbeit angeboten werden, damit sie überhaupt Mitarbeiter finden kann.

Es hilft keinem, wenn der Staat diese Praxis verbietet. Die Unternehmen würden die benötigten Mitarbeiter in Deutschland dann nicht finden, da es sich um Betriebe handelt in ländlichen Umgebungen oder an Stadträndern von Ballungsgebieten.

Die Regierung sollte mit den Gewerkschaften und mit Arbeitgebern in den Dialog treten. Wir müssen Regeln schaffen, die für die Arbeitnehmer gut sind: Der Mindestlohn könnte höher sein und die Bedingungen in den Unterkünften besser. Der Staat sollte die Kontrollmaßnahmen optimieren und nicht einfach sagen: Wir verbieten. Gerade in der Pandemie ist es notwendig, alle Betriebsabläufe aufrechtzuerhalten. Das geht nur mit Arbeitskräften aus der EU-Region. Aber egal woher ein Angestellter kommt, er sollte immer gleich und fair behandelt werden.“

Enrico Kautz, 50, CEO von HR Xperience Group, Unternehmen für Personaldienstleistungen