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Temporäre Spielstraßen in BerlinFreie Fahrt für Dreiräder

Die temporären Spielstraßen könnten auch nach Corona bleiben. Drei Berliner Bezirke setzen so ein Zeichen gegen die Dominanz des Autos in der Stadt.

Unbeschwertes Spielen mitten auf der Anzengruber Straße in Neukölln Foto: Stefanie Loos

BERLIN taz | Wenn Straßen in Berlin gesperrt sind, dann meistens, weil Märkte stattfinden, weil gebaut oder demonstriert wird. Selten wird in das Reich der Autos reingegrätscht, um zu Spielen. Doch das ändert sich gerade. „Corona hat zu einer Spielstraßenrevolution geführt“, sagt Cornelia Dittrich vom Bündnis Temporäre Spielstraßen. In Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Pankow werden bereits – meist sonntags – Straßenabschnitte für Kinder gesperrt. Weitere Bezirke wollen folgen. Lässt sich etwa mit Federball und Kreidemalen die Verkehrshierarchie der autozentrierten Stadt auf den Kopf stellen?

Seit der fünfwöchigen Sperrung von Spielplätzen aufgrund von Hygieneregeln bis Anfang Mai bekommt die Idee, Autostraßen zu temporären Spielstraßen zu erklären, Aufwind. Das dicht besiedelte Friedrichshain-Kreuzberg preschte vor, um trotz Abstandsregeln mehr Platz für Kinder und Eltern zu schaffen: In der Nähe von Spielplätzen wurden 19 Abschnitte für die Sommermonate umgemünzt, wobei aktuell einige wegen der Sommerferien pausieren, weil sich nicht genügend Kiezlots*innen finden – Freiwillige, die die Straßen an den entsprechenden Nachmittagen betreuen. Neukölln zog mit vier Spielstraßen nach. In Mitte sind laut Bezirk derzeit zehn in der Planung.

In der Neuköllner Anzengruberstraße kommen nicht nur haufenweise Kinder auf ihre Kosten, die auf der Straße sowie dem angrenzenden Spielplatz spielen: Neben einer Minirampe, über die eine junge Inlineskaterin rollt, sitzen Dutzende Erwachsene in Stuhlkreisen, auf Fenstersimsen und mit Kleinkindern auf Decken. Aus einem Café dudelt Musik. Es wird gegrillt.

Von Anwohner*innen initiiert

„Wir sind überrascht, wie gut es läuft“, sagt Bajram Sabani. An der Warnweste des 51-jährigen Anwohners zieht dessen Tochter. Er macht mit, um mit ihr hier sicher spielen zu können, sagt er. Mit rund 20 weiteren Freiwilligen organisiert er die Spielstraße: Er stellt die Schilder des Bezirks auf, spricht mit Autofahrer*innen und lässt im Notfall den Rettungswagen durch. Im Gegensatz zu anderen Straßen ist die Anzengruber nicht vom Bezirk, sondern von Anwohner*innen selbst initiiert.

„Dass die Idee aus der Anwohnerschaft kommt, ist der Grundgedanke. Daher müssten die temporären Spielstraßen eigentlich auch anders heißen“, sagt Dittrich vom Spielstraßen-Bündnis. „Nachbarschaftsstraße wäre ein schönerer Name“, findet sie. Seit nunmehr einem Jahr setzt sich das Bündnis dafür ein, Straßen zu Spielplätzen zu machen – etwas, das beispielsweise in London oder Bremen schon seit Jahren funktioniert.

Kinder und Erwachsene auf einer temporären Spielstraße in Neukölln Foto: Stefanie Loos

Auch in Berlin gab es temporäre Spielstraßen schon vor Corona. In der Kreuzberger Böckhstraße darf mittwochs während der Sommermonate gespielt werden. In der Gudvanger Straße in Pankow gibt es aufgrund einer jahrelangen Vorgeschichte und Streit zwischen Anwohner*innen nun die Regel, dass einmal im Monat mittwochnachmittags gespielt werden darf. Die Templiner Straße soll im August starten, zudem gebe es zwei weitere Anwohner*innen-Initiativen in Pankow.

Hoher Verkehrsdruck

Mancherorts wird auch geschummelt, könnte man meinen, indem „dauerhafte Spielstraßen“ zu temporären gemacht werden. Man kennt sie, diese blauen Verkehrsschilder, auf denen ein Kind mit einem Ball zu sehen ist: Hier darf gespielt werden.

Was umgangssprachlich Spielstraße genannt wird, ist jedoch nur eine „verkehrsberuhigte Zone“. Autos dürfen durchfahren, wenn auch nur mit Schrittgeschwindigkeit. „Ein Versuch, alles zu vereinen“, sagt Dittrich. „Das funktioniert aber in der Stadt, wo hoher Verkehrsdruck herrscht, nicht.“

So, wie in der Hobrechtstraße in Neukölln, wo heute ein großer Kindergeburtstag gefeiert wird. „Autos brausen hier normalerweise mit bis zu 50 Sachen durch“, sagt Stephan Kruse, die blauen Schilder würden nicht beachtet. Der 20-Jährige sperrt die Straße daher über den Sommer jeden Sonntagnachmittag für den Bezirk ab. Anwohnerin Natalja Kramer hilft ihm dabei. Die 32-Jährige hatte sich zu Beginn des Lockdowns in einen Newsletter zur Nachbarschaftshilfe eingetragen und sei darüber zur Warnweste auf der Spielstraße gekommen.

Nicht alle Bezirke dabei

„Die meisten Spielstraßen werden gut bis sehr gut angenommen“, sagt Jan Evertz von der Anlauf- und Koordinierungsstelle Öffentliche Räume von Friedrichshain-Kreuzberg. Evertz ist auch in der Wassertorstraße aktiv, wo die Aktion sehr gut ankomme. Beschwerden gebe es wenig. Ausnahme sei die Helmerdingstraße, wo Stellplatzbesitzer*innen einer Tiefgarage unzufrieden gewesen seien.

Nach einer offenen Versammlung wurde die temporäre Spielstraße nun verlegt. Alternativen sollte es genügend geben, denn rund 450 Personen haben sich in Friedrichshain-Kreuzberg als Kietzlots*innen registriert, geschätzt die Hälfte sei tatsächlich aktiv, sagt Heiko Rintelen, Co-Gründer von FixMyBerlin, die den Registrierungsprozess mit dem Bezirk durchführen.

Wo es genug öffentliches Grün gibt, braucht es auch keine temporären Spielstraßen: Im Vergleich zu anderen Orten in Berlin verfüge Treptow-Köpenick über viele Spielplätze, Grünanlagen und Wälder, wo gespielt werden könne, teilt der Bezirk der taz mit.

Auch in Marzahn-Hellersdorf seien keine geplant, da es „dauerhafte Spiel- oder Fußgängerzonen“ sowie „zahlreiche Grünflächen, Innenhöfe, Spielplätze und Parkanlagen“ gebe, heißt es vom Bezirk. Erste An­wohner*innen-Initiativen gebe es in Tempelhof-Schöneberg und Charlottenburg. In den restlichen Bezirken seien keine temporären Spielstraßen in Planung, ergab eine Umfrage der taz bei den jeweiligen Bezirksämtern.

Platz zwischen Mensch und Auto neu verteilen

„Wir fänden es toll, wenn sich die Aktion verstetigt – auch baulich“, sagt Christoph Herrmann, der als Freiwilliger in der Neuköllner Anzengruberstraße aktiv ist. Straßenhügel oder Poller könnten dabei helfen. Ob es nächsten Sommer mit den temporären Spielstraßen weitergehen soll, werde sich zeigen, sagt das Neuköllner Bezirksamt: Das Angebot an die Anwohner*innen stehe. Auch Friedrichshain-Kreuzberg lässt verlauten, dass der Bezirk die Spielstraßen während der Winterpause evaluieren wolle.

Die Verkehrsstruktur dicht besiedelter Kieze wird durch die monatlichen Straßensperrungen vielleicht nicht direkt umgekrempelt, aber mehr als ein Placebo-Effekt ist es allemal: „Die Akzeptanz der Bevölkerung kann damit getestet werden“, sagt Christoph Herrmann von der Anzengruberstraße. Auch Cornelia Dittrich vom Spielstraßen-Bündnis geht es um mehr als nur ums Spielen: „Durch die Nachbarschaftsprojekte kann eine alternative Straßennutzung entstehen“, sagt sie. Ein Zeichen für eine neue Platzverteilung zwischen Menschen mit und ohne Autos sei so schon mal gesetzt.

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