Galerie Wedding in Berlin: Kunst trifft Sozialamt
In der kommunalen Galerie Wedding ist noch bis Samstag die Ausstellung „Gift“ zu sehen. Zwischenzeitlich zog wegen Corona das Sozialamt in die Räume.
Die Kunst soll zum Volke. Diese Forderung wird von sozial engagierten Künstler*innen und Kunstvermittler*innen gern erhoben. In der Galerie Wedding im Berliner Stadtteil Wedding – Raum für zeitgenössische Kunst erfährt nun diese Forderung derzeit eine ganz besondere institutionelle Unterstützung. Die ist zwar bestimmt nicht von jedem so gewollt und tatsächlich auch höchst problematisch. Der Berufsverband Bildender Künstler*innen (BBK) befürchtet sogar, dass die kommunale Galerie Wedding in Zukunft komplett dem Sozialamt weichen muss.
In den Morgenstunden sieht man lange Schlangen vor dem Eingang der Galerie Wedding in der Müllerstraße. Menschen drängen sich. Ihr erstes Ziel ist aber nicht die Kunst. Denn in die Räumlichkeiten der Galerie ist auch das Sozialamt eingezogen.
Drei Stunden am Vormittag empfangen die Mitarbeiter*innen des Sozialamts hier Antragsteller*innen und Empfänger*innen von Hilfen. Ab 12 Uhr übernehmen die Aufsichtskräfte der Galerie. Die Ausstellungsbesucher*innen erleben dann eine installative Überlagerung.
Zum einen gibt es „Gift“, eine Ausstellung von Julian Irlinger. Der 34-jährige Künstler erzählt mittels Fotografien und Dokumenten die Eigentümergeschichte eines Hauses in Schönebeck in Sachsen-Anhalt. Das Haus gehörte einst seiner Familie, wurde zu DDR-Zeiten enteignet und nach der Wende rückübertragen.
Geschichte des Verfalls
Irlinger selbst, in Erlangen geboren und dort aufgewachsen, wusste lange Zeit nichts von dem einstigen Familienbesitz jenseits der Grenze. Die Fotos, die er für die Ausstellung ausgewählt hat, zeigen einen verlassenen, weitgehend leeren und verwahrlost wirkenden Bau – einen Zustand, der in den frühen 1990er Jahren für viele Wohn- und Gewerbebauten im Osten Deutschlands typisch war.
Jetzt überlagert sich diese alte Verlassenheitssituation mit der aktuellen. Denn mitten in den Ausstellungsräumen haben Sozialamtsmitarbeiter ihre Schreibtische aufgebaut. Ihre Computer stehen noch herum, hier und da findet man einen – vermutlich leeren – Kaffeebecher. Ganz im Coronamodus, trennen Plexiglasscheiben sowie eine provisorisch wirkende transparente Folie den Arbeitsbereich vom „Kunden“bereich.
Die Szenerie strahlt Trostlosigkeit aus. Das Büromobiliar, das teilweise aus den 1980er Jahren zu stammen scheint, korrespondiert perfekt mit Irlingers Erzählung vom Familienhaus in Schönebeck. „Die Situation hat sich mit meinem Projekt gar nicht so gebissen. Ich fand es auch interessant, dass sich gewissermaßen die Geschichte umarmt“, bestätigt Irlinger diesen Eindruck.
Ihn interessieren in seiner Kunst die institutionellen Verschiebungen. Und die Spuren, die Pandemie und Lockdown in der Galerie hinterlassen, nimmt er in seiner Arbeit auf. „Kunst muss nicht clean sein. Viele Museen und Galerien haben jetzt wieder aufgemacht. Aber was man sieht, sind die reinen Kunsträume“, meint er.
Ergebnis einer Notsituation
In der Galerie Wedding hingegen sieht man die durch Corona bewirkten Veränderungen ganz deutlich. „Es war doch eine Notsituation. Viele Menschen kamen aufgrund der geschlossenen Grenzen nicht heraus, aber ihr Aufenthaltsrecht erlosch. Da muss man doch schnell etwas machen. Und ich konnte auch verstehen, dass die Sozialamtsmitarbeiter den üblichen Publikumsverkehr unter den Coronabedingungen nicht mehr in ihren Büros oben abwickeln konnten“, erklärt Irlinger.
Während er die Situation künstlerisch nutzte, stellt die Hybridnutzung von Sozialamt und Kunstraum für die Galerieleitung zunehmend ein Problem dar. „Erst hieß es, dass das Sozialamt die Räume bis 30. Juni nutzt. Vor ein paar Tagen wurde uns aber mitgeteilt, dass es bis 30. September geht. Das schränkt unsere Arbeit ein“, erzählt Kuratorin Solvej Ovesen der taz. Denn nicht jedes Projekt passt zu der Situation.
Ovesen kritisiert auch die innerbehördliche Kommunikation, in der ohne große Rücksprache die Doppelnutzung einfach angeordnet wurde. „Eine feindliche Übernahme war es sicher nicht“, wehrt Bezirksamtsprecher Christian Zielke auf Anfrage der taz ab. Wie lange der Zustand der Doppelnutzung dauern wird, kann das Bezirksamt nicht mitteilen, bekundet aber den festen Willen „an diesem Standort eine funktions- und leistungsfähige Galerie zu erhalten und gleichzeitig für die Kundensteuerung des Sozialamtes eine zukunftsfähige Lösung zu entwickeln“.
Der Arbeitskreis Kommunale Galerien des Berufsverbands Bildende Künstler*innen äußerte in einem offenen Brief bereits die Befürchtung, dass die Galerie Wedding auf Dauer geschlossen und die Räume dem Sozialamt zufallen könnten. „Dagegen werden wir kämpfen. Die Galerie Wedding ist unsere wichtigste kommunale Galerie im Bezirk, und sie strahlt auf die gesamte Stadt aus“, erklärte Ute Müller-Tischler, Leiterin der Galerie und zugleich Fachbereichsleiterin für Kunst, Kultur und Geschichte im Bezirksamt Mitte.
Sie wie auch Ovesen sehen zwar ebenfalls den Reiz, der im Zusammenbringen der bisher eher getrennten Welten von Sozialhilfempfänger*innen und Art Crowd liegt. „Aber es kann nur gelingen, wenn es auf Freiwilligkeit beruht und man solche Projekte gut vorbereiten kann. Andernfalls zwingt man nur den einen die Kunst auf und den anderen die Einschränkungen, die durch die Doppelnutzung entstehen“, erklärt Ovesen.
Die Künstler*innen der kommenden Ausstellung, die am 6. August beginnt und in Zusammenarbeit mit dem DAAD entsteht, müssen nun eigene Wege der Auseinandersetzung finden. „Sie werden vor allem performativ auf die Situation eingehen“, kündigte Ovesen an.
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