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Eine Nacht der Anarchie im Zentrum von Belgrad

Serbiens Präsident Vučićkündigt einen neuen Lockdown an und Tausende gehen auf die Straße. Bei Zusammenstößen werden 43 Menschen verletzt und 23 verhaftet

Aus Belgrad Andrej Ivanji

Serbiens Staatschef Aleksandar Vučićwendet sich ständig an sein Volk. Er lobt oder tadelt, droht oder tröstet, schimpft oder jammert, gibt ständig an und immer anderen die Schuld für alles, was schiefgelaufen ist. Für seine Anhänger*innen wirkt er staatsmännisch, für alle anderen verlogen und irritierend.

Als er am Dienstag um 18 Uhr am dritten Tag in Folge im Fernsehen zum Volk sprach, war das nicht anders. Als er aber ankündigte, am kommenden Wochenende wieder eine absolute Ausgangssperre zu verhängen, platzte vielen der Kragen. Für den Rekord von 13 Toten und 299 mit Corona Neuinfizierten binnen 24 Stunden machten sie ihn und sein Regime verantwortlich.

Kaum war Vučićmit seiner Tirade fertig, verwandelte sich die Wut auf sozialen Netzwerken spontan in einen Protest vor dem Parlament im Zentrum Belgrads. Diesmal wurde es kein friedlicher, bürgerlicher Protestmarsch mit Trillerpfeifen, über die sich Vučićfrüher lustig machte. Die Demonstrant*innen überwältigten die wenigen Polizisten, drangen ins Parlament ein und wurden von den Sicherheitskräften wieder herausgedrängt. Das einzige Opfer war der Sicherheitsscanner am Parlamentseingang. Doch danach geriet die Situation außer Kontrolle.

Vor dem Parlament hatten sich Tausende versammelt. Sie riefen „Verhaftet Vučić!“ und „Vučić, geh zum Arzt!“ Geballte Wut einer gespaltenen Gesellschaft mit gleichgeschalteten Medien, in der ein Mann die Kontrolle über alles hat, lag in der Luft. Auf der Straße waren Alte und Junge, Menschen mit Kindern und Hunden, Linke und Rechte. Die einen waren erbost über die schwierige soziale Lage, die anderen über die mangelnde Demokratie und alle zusammen über den serbischen Herrscher.

Bald kam es zur Prügelei zwischen Demonstrant*innen und der Polizei. Es flogen Steine, Flaschen und Bierdosen. Wütende Menschen entrissen den Polizisten Schutzschilde. Darauf schoss die Polizei massiv Tränengas in die Menge. Die Demonstrant*innen rannten weg, kamen aber immer wieder zurück. Sondereinheiten der Polizei eilten in Kampfmontur zum Parlament, auch auf Pferden. Menschen mit von Tränengas geröteten Augen, rangen, sich übergebend, nach Luft. Autos und Mülltonnen brannten auf der Straße. Polizisten schlugen auf drei Jugendliche ein, die auf einer Bank in einem Park saßen. Im Regierungsviertel wurde die Autokratie kurz von der Anarchie abgelöst.

Die Straßenschlachten dauerten bis zwei Uhr morgens. Das Ergebnis: 43 Verletzte, 23 Festnahmen und eine noch tiefer gespaltene Gesellschaft. Regierungsvertreter und gleichgeschaltete Medien sprachen von „Vandalismus“, „Hooligans“ und Oppositionspolitikern, die „kein Opfer scheuen, um mit Gewalt an die Macht zu kommen“.

Gleichgeschaltete Medien sprachen von Opposition­­s­politikern, die kein Opfer scheuen, um mit Gewalt an die Macht zu kommen

Kritiker erinnerten daran, dass die serbische Regierung nach härtesten Maßnahmen in Europa die schnellste Lockerung anordnete und den Sieg über Corona verkündete. Dass Fußballspiele, Konzerte, ein Tennisturnier mit Zuschauern stattfanden. Und dass diese Normalität nur vorgetäuscht worden sei, damit am 21. Juni Parlaments- und Kommunalwahlen stattfinden konnten. Die Serbische Fortschrittspartei (SNS) von Vučić gewann 189 von 250 Mandaten, die regierende Koalition kam zusammen auf 220 Mandate, Oppositionsparteien sind nicht mehr im Parlament vertreten.

Nach den Wahlen explodierten die Zahlen der Toten und Infizierten. Vučićmachte für die restlos überfüllten Kliniken das unverantwortliche Volk verantwortlich. Als er einen totalen Lockdown fürs Wochenende ankündigte, wurden viele Menschen richtig wütend. Man erinnert sich noch an VučićsParty in der Wahlnacht, wie seine Anhänger ohne Schutzmasken in einem überfüllten Raum feierten. Danach waren etliche Minister und SNS-Funktionäre positiv auf Corona getestet worden.

Obwohl Zusammenkünfte von mehr als fünf Menschen auch im Freien verboten sind, wurden weitere Proteste angekündigt.

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