1. Mai in Berlin: Demonstrativ mit dem Auto ins Grüne
Die Proteste fallen in Berlin klein aus. Doch die linke Szene, der DGB und Corona-Verschwörer lassen sich nicht ganz abhalten.
Mit dem Auto in den Grunewald
Wo in den vergangenen Jahren tausende Leute durch das Berliner Reichenviertel Grunewald gezogen sind, gibt es in diesem Jahr nur eine stationäre Kundgebung in der Nähe eines S-Bahnhofs. Immerhin darf die ironisch-demonstrative Intitative „MyGruni“ mit 12 Autos per Korso von Neukölln bis in das Villenviertel fahren. Motto: „Brumm, Brumm, Brumm, wir verteilen um.“
Auf dem Dach des ersten Wagens ist ein gigantischer Spargel befestigt. Darunter klebt ein Transpi mit der Forderung: „Rettet Menschen, nicht den Spargel! Evacuate Moria.“ Übertragen wird alles per Live-Stream im Internet unter dem Titel: „Der große MyGruni-Fernsehgarten“. Die Ironie kommt den Grunewald-Pilger:innen also auch in Corona-Zeiten nicht abhanden.
Der Konvoi aber kommt erstmal nicht vom Fleck. Aufgrund von etwas ausufernden Polizeikontrollen startet der Konvoi erst mit einer Stunde Verspätung. Die Polizei kontrolliert Personalausweise und Führerscheine der Fahrer:innen und durchsucht die Fahrzeuge nach gefährlichen Gegenständen. Auch mitfahrende Pressevertreter:innen müssen sich ausweisen.
Protest und Corona – Der 1. Mai 2020
Als die Autokolonne endlich losfährt, brandet Applaus auf, Fußgänger:innen fotografieren und winken vom Bürgersteig. In Kreuzberg, wo sonst an diesem Tag das MyFest stattfindet, stehen Menschen mit Plakaten am Straßenrand: „Die Würde des Spargels ist unantastbar“, steht auf einem. Im Radio läuft der MyGruni-Livestream mit einer etwas schiefen Coverversion von Nena „99 Hausprojekte“: „Kein Gott, kein Staat, kein Mietvertrag.“
Immerhin eins ist wie in den Vorjahren: über dem eigentlichen Kundgebungsort in Grunewald kreist ein Polizeihubschrauber.
Arbeiterprotest im Internet
„Es muss Schluss sein mit der Ökonomisierung und Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge“. Der Redner klingt fast so radikal wie einer von den Grunewalddemonstranten. Aber es ist Reiner Hoffmann, der Bundesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), der in einem Online-Stream seine Gewerkschaftsbossrede hält.
Pandemiebedingt hat der Gewerkschaftsdachverband, erstmals seit seiner Gründung im Jahr 1949, physische Tag-der-Arbeit-Demos abgesagt. Stattdessen wird eine dreistündige Sendung unter dem Titel „Solidarisch ist man nicht alleine“ gesendet. Beiträge lieferten die acht Gliedgewerkschaften, Bundespolitiker*innen von Linkspartei, CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Religionsvertreter und Musiker*innen. Auch ein Vertreter der Fridays-for-Future-Bewegung kam spontan zu Wort. Wie viele Menschen den Stream verfolgt haben, kann ein Sprecher des DGB am Freitagnachmittag noch nicht sagen.
Einzelne Gewerkschaftsgruppen und radikale Linke tragen trotz der eingeschränkten Versammlungsfreiheit den Protest aber auch auf die Straße. Schon am Vorabend gab es dezentrale Aktionen in den Berliner Stadtteilen Wedding und Friedrichshain.
Einig sind sich Gewerkschafter*innen und Radikale am diesjährigen Arbeiterkampfttag darin, dass die Coronakrise den Wert oft unterbezahlter Arbeit, insbesondere in der Pflege und in pädagogischen Berufen, sichtbarer mache. „Doch Applaus reicht nicht aus“, gibt die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack im Livestream zu bedenken. Es brauche nun eine echte Aufwertung dieser Branchen, am besten durch Tarifverträge. Zudem fordert Hannack einen staatlichen Schutzschirm für Auszubildende und eine bedarfsgerechte Freistellung von Eltern. Es bestehe die Gefahr, dass sich sonst wieder alte Rollenbilder, einschlichen und die Erziehungsarbeit wieder allein von Frauen aufgefangen würde.
Der DGB-Kreisverband Storman wiederum berichtet vom Kampf für Tarifverträge in einem Amazon-Lager, der Bezirk Sachsen von der Situation der pendelnden Arbeitnehmer*innen an der geschlossenen deutsch-polnischen Grenze. Die DGB-Jugend nutzt ihre Sendezeit, um von der Bundesregierung zu fordern, die zivile Seenotrettung im Mittelmeer zu ermöglichen. Auch die Sängerin Dota und der Musiker Konstantin Wecker rufen in ihren Beiträgen zu Solidarität über die Landesgrenzen hinaus auf.
Verschwörer gegen die „Corona-Diktatur“
Ein Spektakel ganz anderer Art findet am Nachmittag rund um den Berliner Rosa-Luxemburg-Platz statt. Wie in den Vorwochen versammeln sich hier VerschwörungstheoretikerInnen, unter ihnen auch bekannte Rechtsextreme, die die Gefährlichkeit des Covid-19-Virus leugnen und vor einer „Corona-Diktatur“ warnen. Es ist die mittlerweile sechste Kundgebung des Vereins Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand, der sich Ende März gegründet hatte.
Weil die Polizei schon frühzeitig die Zugänge zum Platz abgesperrt hat, versammeln sich einige hundert Menschen an den Zugängen, zumeist ohne Mundschutz und unter Missachtung der Abstandsregeln oder sind in den Seitenstraßen unterwegs.
Erstmals seit Wochen taucht Vereinsgründer und Veranstalter Anselm Lenz auf, gegen den die Polizei ein Betretungsverbot für den Bereich ausgesprochen hat. Kurz nachdem er mit Zeitungen aus einem Taxi gestiegen ist, wird er von der Polizei festgenommen. An eine Wanne gelehnt, schreit er panisch. „1. Mai 2020. Artikel 20, Absatz 4 Grundgesetz“, ruft er wiederholt – der Widerstandsartikel. Unter den Umstehenden kommt Panik auf, so groß ist die Sorge vor dem System.
Als sich die Situation etwas später beruhigt und Lenz abgeführt ist, schallen plötzlich linke Sprechchöre durch die Straßen. Es ist das erste Mal, dass hier viele linke GegendemonstrantInnen unterwegs sind.
Auch auf dem Rosa-Luxemburg-Platz sind es Linke, die an diesem Tag ein Zeichen setzen. Sie haben eine Kundgebung angemeldet. 20 Gruppen von VVN-BdA bis Linke, die je einen Vertreter geschickt haben, wollen den Platz mit langer linker Tradition nicht den Rechten überlassen.“ Ein Redner spricht vor einem Publikum aus MedienvertreterInnen und PolizistInnen von „ verwirrten“ Teilnehmern der „Hygienedemo“ und sagt: „Kein Verständnis haben wir für Menschen, die ihre Kritik mit Rechtsextremen auf die Straße tragen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers