Pro und Contra Schulöffnungen in Berlin: Schule – muss das jetzt sein?

Am Montag hat die Corona-Schulanfangsphase begonnen. Aber macht das überhaupt Sinn, wenn in wenigen Wochen schon die Sommerferien starten?

Eine Lehrerin vor einer klasse

Mit Distanz und Maske, der Unterricht der Gegenwart Foto: dpa

Pro

Wenn man bei dieser Coronapandemie eines gelernt hat, dann das: Abwägen heißt der Softskill der Stunde. Die Welt ist ohnehin nie schwarz-weiß, und jetzt ist sie es ganz besonders nicht. Aus epidemiologischer Sicht wäre ein Schul-Lockdown bis August vermutlich super. Aus sozialer Perspektive wäre es ganz sicher eine Katastrophe.

Spricht man mit Schulleitungen und LehrerInnen, sagen die unisono: Viele Kinder erreichen wir mit Homeschooling überhaupt nicht. Wer seit März ohne Unterstützung, Tablet und Internetzugang zu Hause sitzt, der steht mit jeder Woche Schulschließung tiefer im Abseits der ohnehin nicht-existenten Chancengleichheit.

Das Schuljahr ist doch jetzt eh gelaufen, warum also einen Corona-Backlash riskieren – wer so denkt, denkt an den Nöten und Bedürfnissen sehr vieler Kinder und Jugendlicher vorbei. Sicher: Das Restschuljahr bis zu den Sommerferien Ende Juni ist kurz. Und was die SechstklässlerInnen, die ab kommendem Montag wieder in die Schule dürfen, bisher nicht gelernt haben, werden sie in den letzten 30 Tagen ihrer Grundschulzeit auch nicht mehr lernen. Also: Schulen zu, Schuljahr abhaken, #flattenthecurve?

Klar ist: So wie die Senatsbildungsverwaltung die Schulöffnungen bisher geplant hat, wird es nicht gehen. Jahrgangsweise die Kinder zurück in die Schulen zu holen, wie es Senatorin Sandra Scheeres (SPD) bisher angedacht hat, mag der naheliegendste Einfall sein, den man haben kann, aber es ist auch der unpraktikabelste.

Spätestens wenn zwei komplette Jahrgänge wieder in den Schulen sind, werden den Schulleitungen das Personal und die Räume für gedrittelte Klassen ausgehen. Mehr als 8 bis 10 SchülerInnen kann man aber nun mal nicht ins Klassenzimmer setzen, wenn man gleichzeitig den Abstandsregeln genüge tun will.

Warum nicht die Schulleitung entscheiden lassen, wen sie wann zurückholt?

Mal ganz davon abgesehen, dass die Schlangen vor den Waschräumen sehr schnell sehr lang werden dürften, wenn sich alle nach jeder Stunde 30 Sekunden lang die Hände waschen müssen. Und dass die Putzfirmen neben ihrem sonst schon nicht zu bewältigenden Wisch-Pensum auch noch Extra-Desinfektionsarbeiten zwischendurch erledigen, glaube, wer will.

Aber die Schulleitungen sind kreativer, als es die bisherige Herangehensweise ihrer Senatorin vermuten lässt. Warum nicht ihnen überlassen, welche SchülerInnen sie wann in Kleingruppen in die Schulen zurückholen? Die Klassen- und FachlehrerInnen wissen am besten, wer in den letzten Wochen komplett abgetaucht ist und vermutlich langsam mal Hilfe braucht.

Es geht also nicht darum, ob der Rahmenlehrplan für drei, vier oder vielleicht fünf Jahrgänge noch irgendwie eingehalten werden kann. Es geht eher um die Frage: Wie können die Schulen die gröbsten Ungerechtigkeiten, die Corona gerade den Schwächeren aufbürdet, ein wenig ausgleichen?

Es geht in diesem noch verbliebenen Rest des Schulhalbjahrs darum, wie man möglichst viele mitnehmen kann, ohne mit Blick auf die Infiziertenzahlen zu viel zu riskieren. Regelmäßige Treffen mit den KlassenlehrerInnen wären eine Idee, oder gezielter Blockunterricht in den Kernfächern Mathe, Deutsch und Englisch.

Klar kann man die Schulen für alle öffnen. Es ist, wie so oft derzeit, eine Frage des Wie. Anna Klöpper

Schüler in einer Klasse

Leer, leerer, Klassenzimmer. Bisweilen werden nur acht SchülerInnen gemeinsam unterrichtet Foto: dpa

Contra

Das Schöne an der Coronakrise ist, dass selbst ExpertInnen jeden Tag etwas dazulernen. Bestes Beispiel: Seit Montag ist ein Mund-Nase-Schutz in Berliner U-Bahnen Pflicht. Vor einigen Wochen galt er noch als sinnlos.

Genau umgekehrt verhält es sich mit der Öffnung der Schulen. Seit deren Schließung Mitte März harren SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen auf den Neustart, eine rasche Rückkehr wurde als alternativlos eingeschätzt. Schließlich gilt die Schulpflicht. Doch nun ist absehbar: Die Rückkehr in die Schulen vor den Sommerferien macht mit wenigen Ausnahmen keinen Sinn. Im Gegenteil, sie erschwert vielen vieles.

Sicher war es richtig, die AbiturientInnen ihren Abschluss machen zu lassen – eine Hängepartie war ihnen in dieser sowieso schwierigen Phase nicht zuzumuten. Dasselbe trifft für jene zu, die nach der 10. Klasse die Schule verlassen. Aber für alle anderen gilt: Dieses Schuljahr ist gefühlt und auch real gelaufen.

Ein klar terminierter Neustart am 10. August ist die bessere Alternative für Eltern, LehrerInnen und SchülerInnen.

Bis zu den Sommerferien am 25. Juni sind es keine zwei Monate mehr, zieht man die vielen Feiertage und den üblichen Leerlauf am Ende ab, bleiben ein paar Wochen. Ein klar terminierter Neustart am 10. August ist die bessere Alternative für Eltern, LehrerInnen und SchülerInnen.

Es ist auch wenig wahrscheinlich, dass überhaupt alle Kinder ihre KlassenkameradInnen vor den Ferien wiedersehen werden, vor allem nicht all jene, die vom Alter her nicht zu den „entscheidenden Klassen“ gehören, etwa Erst- und Zweitklässler- oder AchtklässlerInnen.

Unklar ist, wie der Unterricht mit Abstands- und Hygieneregeln überhaupt organisiert werden soll, ganz zu schweigen von deren Kontrolle in den Hofpausen. Es fehlt schlicht die Zeit, Ideen auszuarbeiten, es fehlen die Räume, es fehlen LehrerInnen, die die betreuungsintensiven Konzepte ernsthaft umsetzen könnten, ohne sich dabei – etwa als Klofrau oder -mann – veräppelt zu fühlen.

Viele Kinder in der Notbetreuung klagen bereits jetzt, dass sich die Arbeit der ErzieherInnen in der dauernden Vorgabe erschöpft, Abstand von anderen zu halten. Würde das auch in der Schule Alltag, wird diese von einem Ort des Lernens reduziert auf einen Ort der fortwährenden Ermahnung.

Statt also jetzt sowohl die Organisation des Unterrichts wie dessen Inhalte im Schnellverfahren zu organisieren, sollten sich die LehrerInnen auf Letzteres konzentrieren können: Den Stoff via Computer, Mails, Kopien etc. zu vermitteln, der noch geht – und wenn etwas nicht mehr geht, ist das auch nicht der Weltuntergang.

Da der Unterricht auch nach den Sommerferien nicht in der früheren Form stattfinden wird, können RektorInnen und Verwaltung die Zeit nutzen, die Schulen darauf vorzubereiten: mit baulichen Veränderungen, etwa im sanitären Bereich, mit Konzepten, wie ab August der Unterricht und das Homeschooling kombiniert werden können, ohne Eltern und SchülerInnen zu überfordern.

Einzugestehen, dass das Festhalten am schnellen Schulbeginn falsch war, dürfte Bildungssenatorin Sandra Scheeres nicht leichtfallen. Aber schon andere große Geister haben in dieser Debatte geirrt. Und werden es wieder tun. So ist nicht abschließend erforscht, welche Rolle Kinder bei der Verbreitung des Coronavirus spielen. Nicht ausgeschlossen, dass sich die Abstandsregeln noch als obsolet herausstellen. Bert Schulz

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Seit 2011 bei der taz. Leitet gemeinsam mit Sunny Riedel das Ressort taz.eins. Hier entstehen die ersten fünf Seiten der Tageszeitung, inklusive der Nahaufnahme - der täglichen Reportage-Doppelseite in der taz. Davor Ressortleiterin, CvD und Redakteurin in der Berliner Lokalredaktion. Themenschwerpunkte: Bildungs- und Familienpolitik.

Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.

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