Corona und Journalismus: Blatt ohne Papier
Gerade in der Krise braucht es unabhängigen Journalismus – und zwar in der Breite. Verlage von Lokalzeitungen sind zum Umdenken gezwungen.
Manchmal braucht es eine Krise, um zu verstehen, was zählt. Wer krank wird, weiß gute Versorgung mehr zu schätzen. Wer keine Freund*innen treffen darf, entdeckt den Wert von Umarmungen. Leere Supermarktregale zeigen, wie wichtig die sind, die sie auffüllen. Ärzt*innen, Pflege- und Supermarktpersonal, sie alle sind nun „systemrelevant“. Waren sie natürlich schon vorher. Aber wer hätte das schon so genannt?
Und Journalist*innen? Auf ihre Art ebenfalls relevant – da, wo sie recherchierten, aufdeckten, kommentierten, und zwar nicht nur an den großen Medienstandorten, sondern überall im Land. Aber oft wurden sie nicht als unabdingbar wahrgenommen fürs Funktionieren der Demokratie. Beachtet wurden stattdessen: Abos und Anzeigen.
Nun erleben wir ein Paradox. Die Nachfrage nach seriösem Journalismus, der informiert und einordnet, steigt. Aber die Anzeigenerlöse, die ihn mitfinanzieren, sinken oder bleiben ganz aus. Vor allem im Lokalen. Die großen überregionalen Titel werden klarkommen. Aber was ist mit der Vielfalt in der Breite?
Erkundigt man sich in diesen Tagen in den Redaktionen über ihre Situation, hört man einerseits Jubel in Häusern wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die von Wachstum „um 80 Prozent“ bei digitalen Zugriffen spricht, andererseits große Besorgnis bei Lokalblättern. Die kleinen sind besonders betroffen, wie die Neue Rottweiler Zeitung, ein unabhängiges Gratisblatt, von einem Verein getragen. Ende März wurde die Printausgabe eingestellt. Andere Lokalblätter haben ihre Seitenzahlen minimiert oder die Redaktionen in Kurzarbeit geschickt.
Widersprüche im System
Ende März veröffentlichte der Chefredakteur der Main-Post, Michael Reinhard, einen Text in seinem Blatt, einer Regionalzeitung mit Sitz in Würzburg, Auflage 115.000. „Wir über uns“, so der Titel, und: „Nie war es wichtiger, die Menschen seriös zu informieren.“ Kein*e Chefredakteur*in hatte in der Krise bis dahin so transparent aufgeschrieben, was die Lokalzeitungsbranche umtreibt: Reinhard sprach über Werbeverluste in Höhe von 80 Prozent. Als eine der ersten Zeitungen schickte die Main-Post ihre Redaktion im April in Kurzarbeit.
Zwischen 50 und 70 Prozent werde in manchen Ressorts nur noch gearbeitet, sagt Reinhard der taz. Mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben verschwand auch der klassische Terminjournalismus: Empfang beim Bürgermeister. Die neue Rathausglocke wird eingeweiht. Ein Verein feiert sein 100-jähriges Bestehen. Derlei Termine füllen normalerweise verlässlich die Lokalzeitungsseiten.
Die Krise offenbart Widersprüche des derzeitigen Systems Zeitung: Während der Bedarf nach gutem Journalismus steigt, schicken Verlage ihre Redaktionen nach Hause. Dabei könnte es ganz anders sein. Die Lokalzeitungen könnten die großen Profiteure der Krise sein. Das sieht jedenfalls Hannah Suppa so, Chefredakteurin für Digitale Transformation der Madsack-Mediengruppe.
Suppa kümmert sich bei dem Medienkonzern um die Entwicklung einer digitalen Strategie für die Regionaltitel, entwickelt Strukturen und Arbeitsabläufe für Lokalzeitungsredaktionen, um sie stärker ins Digitale zu rücken. Die Coronakrise spiele vor allem direkt vor Ort, sagt sie. „Es ist eine Hoch-Zeit für den Regionaljournalismus – weil viele Leser wiederentdecken, welchen Mehrwert unsere Arbeit für ihr Leben hat.“
In einer Krise wie dieser interessiert das Unmittelbare besonders: Wie viele Infizierte gibt es in meiner Stadt, in meinem Landkreis? Was ist erlaubt? Welche Anlaufstellen gibt es in meiner Umgebung? „Das sind die dringenden Fragen, die die Menschen gerade haben – und die wir als Regionalmedien beantworten“, sagt Suppa. Und: Was heute bundespolitisch debattiert wird, wird morgen regional und lokal umgesetzt – oft sehr unterschiedlich. Das Informationsbedürfnis sei deshalb sehr groß, sagt Suppa. Genau da müssten Lokalmedien ansetzen. „Wir leben in der Region, genauso wie die Menschen, für die wir da sind“, sagt Suppa. Lokalmedien wissen, was die Menschen betrifft. Wissen sie das zu nutzen, können sie wieder zur lokalen Plattform für eine Region werden.
Weniger Termine, mehr Themen
Die Madsack-Mediengruppe besitzt zahlreiche Lokaltitel wie die Hannoversche Allgemeine Zeitung, Ostsee-Zeitung und Leipziger Volkszeitung. Die seien von der Coronakrise betroffen wie viele andere in der Branche, sagt Suppa. Dennoch gibt sich Suppa in ihrem Bereich optimistisch. „Es zeigt sich, dass die Anstrengungen, die wir in den letzten Jahren in der digitalen Transformation unserer journalistischen Marken unternommen haben, sich in dieser Krise auszahlen“, sagt Suppa. Dank eines digitalen Abomodells, das Madsack vergangenes Jahr eingeführt hat, könnten Inhalte jetzt viel einfacher monetarisiert werden. Die Coronakrise habe beschleunigt, woran Suppa schon lange für das Unternehmen gearbeitet habe: eine digitale Transformation. Ist es so einfach?
Sicher ist: der Regional- und Lokaljournalismus ist nicht erst neuerdings in der Krise. Seit Jahrzehnten diskutiert die Branche Strategien und Ideen, um relevant und finanziert zu bleiben.
Main-Post-Chefredakteur Reinhard sagt: „Was wir in der Coronakrise lernen, wollen und müssen wir auf jeden Fall beibehalten.“ Für die Zeitung heiße das: weniger Terminjournalismus, mehr eigene Recherchen und politische Themen. Die Coronakrise hat klassische Ressortstrukturen aufgeweicht, Reporter*innen arbeiteten deshalb vermehrt themenorientiert. „Wir planen Themen, und daraus wird auch eine Zeitung gemacht, aber wir planen nicht mehr von der Zeitung aus.“ Die Zukunft des Lokaljournalismus liege nicht in der Papierzeitung. Vielmehr müsse man sich „als regionale Inhalte-Ersteller für relevante Themen“ verstehen – egal ob diese dann im Print, im Netz oder im Podcast landen.
Einen Masterplan haben beide nicht. Aber vielleicht ist die Utopie des Lokaljournalismus ganz simpel: einer, bei dem kritische und investigative Geschichten im Zentrum stehen – und nicht das Medium, das sie transportiert.
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