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„Die Hetero-normativität der Ein­schrän­kungen“

Queere Menschen und ihre Bedürfnisse werden bei den Maßnahmen zur Bekämpfung von Sars-CoV-2 zu wenig mitgedacht, sagt Dirk Sander, Schwulenreferent bei der Deutschen Aidshilfe

Dirk Sander, Diplomsozialwissenschaftler, und zertifizierter Verbandsmanger, ist Schwulen­referent bei der Deutschen Aidshilfe. Er hat eine Reihe von Beiträgen zu den Einflussfaktoren auf die Gesundheit von gesellschaftlichen Minderheiten veröffentlicht.

Interview Dirk Ludigs

taz: Herr Sander, warum sind queere Menschen anders und stärker von den Beschränkungen und der Kontaktsperre in der Corona­krise betroffen als andere?

Dirk Sander: Mit Blick auf die Studienlage wissen wir, dass viele queere Menschen grundsätzlich mehr Probleme mit ihrem psychischen Wohlbefinden haben als der Bevölkerungsdurchschnitt. Die Coronakrise verstärkt diese Probleme noch. Dazu kommt, viele der Einschränkungen gehen von einem heteronormativen Gesellschaftsbild aus. Queere Menschen leben andere Formen von Gemeinschaft. Die Beziehungen bestehen in dieser Gruppe nicht vorrangig aus Ehe oder der klassischen Familie. Und da haben wir noch gar nicht von denen gesprochen, die Abhängigkeitserkrankungen haben, oder von Leuten, die es gewohnt sind, ihre Sexualität auf Partys auszuleben. Oder denen, die prekär der Sexarbeit nachgehen. Natürlich ist die Situation für alle schwierig, aber sie belastet eben jene am meisten, die vorher schon besonders belastet waren.

Ist es ein Fehler der Politik, in Krisenzeiten wieder automatisch in traditionelle Rollen- und Gesellschaftsbilder zurückzufallen? Ein Begriff wie „Kernfamilie“ zum Beispiel ergibt für viele queere Menschen gar keinen Sinn oder ist eher problematisch besetzt.

Ich würde unserer Politik da keinen Vorwurf machen, die mussten auch erst mal unter Stress reagieren. Ich glaube aber, dass wir gerade jetzt Aktivist*innen brauchen, die darauf hinweisen, dass Familie eben nicht für alle dasselbe ist. Für manchen ist eben der Sexpartner, der um die Ecke wohnt, sein Äquivalent zu Familie. Dann einfach zu sagen, Singles haben keinen Anspruch mehr auf Sex, das kann nicht die Lösung sein. Wir hören bei den Aidshilfen zum Beispiel auch, dass einige Ärzte schwulen Männern die HIV-Prophylaxe PrEP nicht mehr verschreiben, weil es ja ein Kontaktverbot gibt. Das finde ich anmaßend und fahrlässig, denn es führt zu Schutzlosigkeit. Menschen sind und bleiben auch in der Krise sexuelle Wesen.

Woran fehlt es am meisten?

Ich vermisse in der aktuellen Debatte über die Zunahme häuslicher Gewalt zum Beispiel die Tatsache, dass auch in queeren Beziehungen Gewalt stattfindet. Dass queeren Menschen die Safe Spaces fehlen, in die sie sich zurückziehen können, weil heterosexuelle Kernfamilien queeren Menschen diese Sicherheit oft nicht geben, im Gegenteil. Clubs, Bars oder Vereine spielen für queere Menschen deshalb auch eine viel bedeutendere Rolle, weil es Orte sind, an denen sie verstanden werden und so sein können, wie sie sind.

Nun stehen ja nicht nur einzelne queere Personen unter Stress, auch die gesamte queere Community leidet unter hoher Belastung.

Die Auswirkungen sind kaum abzuschätzen, aber sicher ist, sie werden uns noch über Jahre beschäftigen. Alles, was queere Community ausmacht, findet im Moment nicht mehr statt. Wir erleben, wie Tade Spranger, ein Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Bonn, es nennt, die Zerrüttung des gesellschaftlichen Miteinanders. Und in diesem Zusammenhang auch gerade die Grenzen der digitalen Kommunikation. Carolin Emcke beschreibt unsere Situation ja zu Recht als einen Tsunami, das Wasser zieht sich gerade erst zurück, wir werden erst nach und nach erkennen, was für Verwüstungen er hinterlässt.

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