Kommentar von Bert Schulz zur Strategie Berlins gegen Corona: Taktik statt Profilierung
Bert Schulzist Leiter der Berlin-Redaktion
Man muss sich nichts vormachen: Einigkeit gab es in der Coronakrise unter den Ministerpräsidenten höchstens für ein paar Tage. Die Botschaft, die bei den Menschen ankommt: Es geht den PolitikerInnen um Profilierung. Vielen BürgerInnen fällt es deswegen schwer, das bisweilen widersprüchliche Vorgehen der Politik zu akzeptieren. Wenn in Niedersachsen und damit auch in einer Großstadt wie Hannover nun die Kneipen aufmachen werden, wie SPD-Ministerpräsident Stephan Weil bereits angekündigt hat, warum sollten sie dann in Berlin zubleiben?
Auch die Berliner Politik ist nicht frei von dieser Profilierungssucht. Das gipfelt in absurden Diskussionen wie am Montag im Wirtschaftsausschuss. Dort mühten sich nicht nur Vertreter von CDU und FDP, Biergärten in Bayern als Hort des hemmungslosen Saufens darzustellen, wo nach drei, vier Maß Coronaregeln obsolet wären, wohingegen es in Berlin überwiegend „gepflegte Gastronomie“ gebe. Es gilt die Abwandlung eines alten Sprichworts: Wes Bier ich trink, des Lied ich sing.
Auch der Regierende Bürgermeister hat wiederholt Sonderlösungen für Berlin umgesetzt, etwa was die Schulöffnung angeht und die Rückkehr zur umfassenden Kitabetreuung. Begründet wurde dies mit Besonderheiten Berlins als Stadtstaat. Auch dabei überwog am Ende der Eindruck, dass es eher um die eigene Position geht als um die nachhaltige Eindämmung des Coronavirus. Was wiederum in Widerspruch steht zu den steten strengen Mahnungen der Politik in Richtung der Bürger, zum Beispiel Kontaktsperren genau einzuhalten.
Ein Grundproblem ist, dass es die Politik sowohl im Bund wie in den Ländern bisher nicht geschafft hat, ihre Strategie in der Coronakrise zu definieren: Soll jetzt die Zahl der Neuinfektionen möglichst schnell sinken? Oder nimmt man bewusst wieder welche in Kauf, um den Alltag und die Wirtschaft in Richtung eines Normalzustands zu führen?
Solange es kein Ziel gibt, fällt es zunehmend schwer, die Lockerungen dahingehend zu bewerten. So entwickelt sich die Coronakrise hin zum Laisser-faire: Jeder Politiker macht so ein bisschen, was er will; und die Menschen tun es ihnen nach.
Wenn der rot-rot-grüne Senat am Mittwoch seine Lehren aus der vorhergehenden Konferenz mit der Bundeskanzlerin zieht und weitere Lockerungen verkündet, muss das einhergehen mit einer deutlich erkennbaren Taktik, etwa welche Bedeutung die von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci angekündigte Ausweitung der Tests künftig haben soll. Zwei Monate nach Beginn der Coronapandemie sollte das möglich sein. Sonst bekommt man den Eindruck, selbst im Senat bestimme nur noch die persönliche Profilierungssucht die Politik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen