: Und was ist eigentlich mit Bernie Sanders?
Der linke Senator, Gegenstück zu Jeremy Corbyn bei den US-Demokraten, steht vor dem Aus bei den Vorwahlen. Er widmet sich jetzt dem Coronavirus
Aus New York Dorothea Hahn
Bernie Sanders ist immer noch Kandidat für die Präsidentschaftskandidatur der US-Demokraten. Aber er macht keinen Wahlkampf mehr, hält keine Wahlkampfreden, veröffentlicht keine Wahlkampfvideos. Mit seinen 861 Delegierten liegt Sanders weit hinter den 1.453 des Zentristen Joe Biden. Um sich doch noch durchzusetzen, müsste Sanders sämtlichen ausstehenden Vorwahlen – auch die Biden-Hochburgen – haushoch gewinnen.
Viele DemokratInnen drängen den Linken nun dazu, seinen Wahlkampf zu beenden, um die Partei auszusöhnen. Doch Sanders ist dazu noch nicht bereit. Er will den Moment nutzen. Nicht mehr für seine eigene Präsidentschaftskandidatur, sondern für ein „grundlegendes Umdenken über die Natur der amerikanischen Gesellschaft, ihre Moral und ihre Prioritäten“.
Der linke Senator aus Vermont konzentriert sich jetzt auf das Coronavirus. Statt Spenden für seine Kampagne fordert er seine UnterstützerInnen auf, Geld an Gruppen zu geben, die sich mit der Pandemie befassen. Und wie kein anderer Washingtoner Politiker versucht er, soziale Absicherungen für die Millionen von alten und neuen Arbeitslosen, Armen, Nicht-Versicherten und Obdachlosen einzuführen, um das Land für die kommende gesundheitliche und ökonomische Katastrophe zu wappnen.
„Die Realität hat Bernie umarmt“, sagen Mitglieder von Sanders’ Präsidentschaftskampagne in diesen Tagen. Der Kandidat hat seine komplette Karriere daran gearbeitet, den schwachen Sozialstaat in den USA auszubauen und Gerechtigkeit für jene zu schaffen, die nicht vom US-Kapitalismus profitieren.
„Die 99 Prozent“ hat Sanders sie genannt. Als Präsident wollte er zusammen mit ihnen eine „politische Revolution“ einleiten, gegen die „Milliardärsklasse“ und gegen den Einfluss des Geldes auf die Politik. Eine zentrale Rolle in seinem Programm nahm die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung ein. Sanders begründet das mit Argumenten, die in anderen Industriestaaten selbstverständlich sind: „Eine Krankenversicherung ist kein Privileg, sondern ein Grundrecht.“ Aber in den USA fanden das nicht nur Konservative, sondern auch fast alle anderen Demokraten „zu radikal“.
Jetzt gibt die Pandemie dem Kandidaten Sanders auf dramatische Weise recht. Das Gesundheitssystem des reichsten Landes des Planeten bricht wie ein Kartenhaus zusammen. Und das gesundheitspolitische Versagen ist erst der Anfang. Schon in den zurückliegenden zwei Wochen haben zehn Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze verloren. Bis Ende Juni rechnen Washingtoner Ökonomen mit einer Arbeitslosigkeit von über 30 Prozent. Weil die Hälfte der US-AmerikanerInnen über keine Rücklagen verfügen – 40 Prozent der Beschäftigten haben weniger als 400 Dollar auf dem Konto –, werden zig Millionen Menschen ihre Mieten oder Hypotheken nicht mehr zahlen können. Zusätzlich wird das Heer der schon bislang mehr als 70 Millionen dramatisch verstärkt durch die Millionen, die mit ihren Jobs auch ihre Krankenversicherungen verlieren.
Nachdem Sanders im letzten, mit 2,2 Billionen Dollar ausgestatteten Rettungsprogramm die Aufstockung von Arbeitslosengeld durchgesetzt hat, schlug er am Freitag weitere Maßnahmen für das nächste Paket vor: Lohnfortzahlungen und eine garantierte Gesundheitsversorgung. Solche Politikvorschläge, die noch vor wenigen Wochen „zu radikal“ waren, treffen jetzt das Mehrheitsgefühl im Land.
Aber gleichzeitig interessiert sich kaum noch jemand für Vorwahlen. Wegen der Ansteckungsgefahr sind fast alle noch ausstehenden Vorwahlen verschoben worden. Und der Nominierungsparteitag der US-Demokraten ist um einen Monat auf August vertagt worden.
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