talk of the town
: Ruhe im Karton

Coronaverordnungen schränken politischen Protest stark ein. Auf die Gelegenheit, Versammlungen gleich ganz zu verbieten, scheinen einige nur gewartet zu haben

Physische Distanz und politischer Protest schließen sich nicht aus, wie Flüchtlings­aktivist*innen vor dem Kanzlerinnenamt ­demonstrieren Foto: Christian Mang

Von Erik Peter

Es sind Szenen, die man nur aus autoritären Polizeistaaten kennt: Eine einzelne Frau mit einem umgehängten Protestschild wird am Sonntag vor dem Brandenburger Tor von Polizisten umringt. Sie muss ihre Daten abgeben und erhält eine Anzeige wegen Verstoßes gegen die Coronaverordnung und das Versammlungsgesetz. Sie bleibt nicht die Einzige. Dasselbe passiert Menschen, die unter Einhaltung der Abstandsregelungen am Hamburger Fischmarkt mit Kreide ihre Botschaften für eine humane Flüchtlingspolitik auf den Boden schreiben wollen.

In Frankfurt/Main wird eine Ansammlung von DemonstrantInnen im Rahmen des #LeaveNoOneBehind-Aktionstages zur Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager aufgelöst, obwohl sie penibel einen Zwei-Meter-Abstand zueinander einhalten. In Berlin unterbinden Polizisten sogar eine Auto-Demonstration. Landesweit entfernt die Polizei im öffentlichen Raum angebrachte Protestplakate oder abgestellte Schuhe. Was sich die Protestierenden auch haben einfallen lassen, um dem Infektionsschutz gerecht zu werden und dennoch ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen, sie scheiterten an einer autoritär agierenden Ordnungsmacht.

Weder die OrganisatorInnen der Proteste noch andere vernunftbegabte Menschen haben infrage gestellt, dass Menschenansammlungen aufgrund der sich weiter ausbreitenden Coronapandemie derzeit verboten sind. Nur sind Demonstrationen oder Kundgebungen keine Ansammlungen wie jede andere, keine Grillparty im Park und auch kein Fußballspiel. Sie obliegen dem besonderen Schutz des Grundgesetzes, Artikel 8. Eine Einschränkung ist möglich, die gänzliche Abschaffung, wie man sie de facto derzeit auf den Straßen beobachten muss, jedoch ausgeschlossen. Dafür sorgt schon die im Grundgesetz enthaltene Ewigkeitsgarantie, die eine Antastung der Grundrechte untersagt. Inzwischen muss man trotzdem befürchten: Ewig war gestern.

Niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik sind Grund- und Freiheitsrechte so massiv und flächendeckend eingeschränkt worden wie derzeit. Selbst gegen die 1968 beschlossenen Notstandsgesetze konnte noch demonstriert werden. Doch weil die nun verfügten Verbote vorgeblich der Rettung von Menschenleben dienen, ist die Bereitschaft in der Bevölkerung, diese mitzutragen, groß. In demütiger deutscher Tradition wird der imaginierten Allparteienkoalition, die in den Bundesländern für die Restriktionen verantwortlich ist, gefolgt. Dabei überschreiten die Landesregierungen mit den – noch nicht mal durch Parlamente abgesegneten – pauschalen Versammlungsverboten ihre Kompetenzen.

Selbst gegen die Notstandsgesetze konnte 1968 noch demonstriert werden

Dass Verwaltungsgerichte in Hamburg und Berlin Eilanträge gegen die Demonstrationsverbote abgewiesen haben, heißt im Übrigen nicht, dass diese nicht rechtswidrig sind. Ein Grundsatzurteil fehlt. Dabei ist offenkundig: Der Versuch, per Verordnung, höher gestelltes (Versammlungs-)Recht oder gar das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit auszuhebeln, ist nicht möglich. Rechtlich haltbar sind dagegen Auflagen, die etwa die Beachtung des Infektionsschutzgesetzes vorschreiben. Zu Gesprächen über mögliche sichere Protestformen kam es aber in den erwähnten Fällen gar nicht erst. Versammlungsbehörde und Polizei scheint es ganz recht zu sein, sich auf die Position des Totalverbots zurückziehen zu können. Endlich ist Ruhe im Karton.

Es geht selbstverständlich auch anders, wie das Beispiel Bremen zeigt. Die dort erlassene Corona-Rechtsverordnung nimmt „öffentliche und nichtöffentliche Versammlungen nach Art. 8 GG“ von einem Verbot aus. In Münster durfte – nach einer Klage vor dem Verwaltungsgericht – am Montag eine Kundgebung gegen einen Uranmülltransport stattfinden. Etwa 80 Menschen hielten sich dabei an die Auflagen; sie demonstrierten mit einem Abstand von mindestens 1,50 Meter zueinander und mit Atemschutzmasken – im Gegensatz zu den eingesetzten PolizistInnen.

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