Zahlen zu Kindesmissbrauch: Ran an die Mitwisser!

Sexuelle Gewalt gegen Kinder hat immer Mitwisser*innen. Damit die Zahlen endlich sinken, braucht es eine Kampagne, die diese Menschen anspricht.

Ein Kreuz hängt an einer Wand in einer kirchlichen Einrichtung.

Auch in den Kirchen wird mittlerweile über Missbrauch gesprochen Foto: Uwe Zucchi/dpa

Wussten Sie, dass etwa jede*r achte erwachsene Bundes­bürger*in als Kind sexuelle Gewalt erlebt hat? Wussten Sie, dass die meisten Übergriffe auf Kinder nicht spontan und einmalig passieren, sondern langsam entwickelt werden – von der verbalen Anmache und dem Zeigen von Pornos bis zur Vergewaltigung? Und wussten Sie, dass die meisten Täter gar nicht pädosexuell veranlagt sind, sondern sich an ihrer Macht über einen unterlegenen Menschen berauschen? Weil sie es können und weil sie nur selten auffliegen?

Das wussten Sie alles nicht? Kein Wunder, es wird ja auch kaum darüber gesprochen. Das Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder ist zwar ständig in den Schlagzeilen, man spricht über Fälle in Internaten, Skandale in Pfadfindergruppen und Kirchengemeinden, es gibt einen Unabhängigen Beauftragten, einen Betroffenenrat und eine Aufarbeitungskommission – und trotz all dieses Engagements wollen die Zahlen einfach nicht sinken.

Warum ist das so? Vielleicht fehlt es den meisten an einem Wissen, das sie auch handeln lässt. Dazu gehört, dass Kindesmissbrauch ein Gemeinschaftsdelikt ist: Weil Täter und Opfer sich fast immer kennen, geschehen die Taten inmitten eines duldenden Umfelds. Das sind Mütter, die es nicht wahrhaben wollen, Geschwister, die sich nicht zu petzen trauen, Lehrer*innen, die befürchten, einen Fehler zu machen – und Schulleiter*innen oder Bischöfe, denen der Ruf ihrer Institution wichtiger ist als der Kinderschutz.

Immer hat es jemand gewusst oder zumindest geahnt. Und viel zu selten handelt jemand. Wissen Sie, an wie viele Erwachsene sich Kinder im Durchschnitt wenden, bevor einer ihnen hilft? Es sind sieben. Zehn Jahre nachdem das riesige Ausmaß sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft offenbar wurde, wird es Zeit, die Mitwisser*innen in die Pflicht zu nehmen. Die aktuelle Kampagne „Anrufen hilft!“ ist ein Anfang. Doch eigentlich müsste es heißen: „Wer nicht hilft, hilft den Tätern“ – und macht sich mitschuldig.

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Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.

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