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Zahlen zu KindesmissbrauchRan an die Mitwisser!

Nina Apin
Kommentar von Nina Apin

Sexuelle Gewalt gegen Kinder hat immer Mitwisser*innen. Damit die Zahlen endlich sinken, braucht es eine Kampagne, die diese Menschen anspricht.

Auch in den Kirchen wird mittlerweile über Missbrauch gesprochen Foto: Uwe Zucchi/dpa

W ussten Sie, dass etwa jede*r achte erwachsene Bundes­bürger*in als Kind sexuelle Gewalt erlebt hat? Wussten Sie, dass die meisten Übergriffe auf Kinder nicht spontan und einmalig passieren, sondern langsam entwickelt werden – von der verbalen Anmache und dem Zeigen von Pornos bis zur Vergewaltigung? Und wussten Sie, dass die meisten Täter gar nicht pädosexuell veranlagt sind, sondern sich an ihrer Macht über einen unterlegenen Menschen berauschen? Weil sie es können und weil sie nur selten auffliegen?

Das wussten Sie alles nicht? Kein Wunder, es wird ja auch kaum darüber gesprochen. Das Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder ist zwar ständig in den Schlagzeilen, man spricht über Fälle in Internaten, Skandale in Pfadfindergruppen und Kirchengemeinden, es gibt einen Unabhängigen Beauftragten, einen Betroffenenrat und eine Aufarbeitungskommission – und trotz all dieses Engagements wollen die Zahlen einfach nicht sinken.

Warum ist das so? Vielleicht fehlt es den meisten an einem Wissen, das sie auch handeln lässt. Dazu gehört, dass Kindesmissbrauch ein Gemeinschaftsdelikt ist: Weil Täter und Opfer sich fast immer kennen, geschehen die Taten inmitten eines duldenden Umfelds. Das sind Mütter, die es nicht wahrhaben wollen, Geschwister, die sich nicht zu petzen trauen, Lehrer*innen, die befürchten, einen Fehler zu machen – und Schulleiter*innen oder Bischöfe, denen der Ruf ihrer Institution wichtiger ist als der Kinderschutz.

Immer hat es jemand gewusst oder zumindest geahnt. Und viel zu selten handelt jemand. Wissen Sie, an wie viele Erwachsene sich Kinder im Durchschnitt wenden, bevor einer ihnen hilft? Es sind sieben. Zehn Jahre nachdem das riesige Ausmaß sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft offenbar wurde, wird es Zeit, die Mitwisser*innen in die Pflicht zu nehmen. Die aktuelle Kampagne „Anrufen hilft!“ ist ein Anfang. Doch eigentlich müsste es heißen: „Wer nicht hilft, hilft den Tätern“ – und macht sich mitschuldig.

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Nina Apin
Redakteurin Meinung
Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.
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5 Kommentare

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  • Sehr schade, dass hier wieder nur von "Mütter, die es nicht wahrhaben wollen" gesprochen wird, wobei eindeutig bewießen wurde inzwischen, dass genauso Mütter Täterinnen sein können und dann müsste es nach Gleichberechtigung heißen "Mütter und Väter, ..."



    So klingt es als wären nur Väter übergriffig. Dem ist leider absolut nicht so!

  • Wussten Sie, dass die Bezeichnung "pädosexuell" von Tät_ern aus der sogenannten "Pädosexuellenbewegung" bevorzugt wurde weil sie mit Homosexuellen gleichgestellt werden wollten? Wussten Sie, dass die sprachliche Ähnlichkeit der Begriffe und die Erklärung von sexualisierter Gewalt durch (normabweichende|gestörte) Sexualität auch (extrem) Rechten Ideologen entgegenkommt, die Homosexualität und alles was queer ist mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Verbindung bringen wollen? Wussten Sie, dass es keine Beweise für die Existenz einer "pädosexuellen" oder auch "pädophilen" Veranlagung gibt? Wussten Sie, dass die Annahme einer solchen Veranlagung Tät_ern dabei hilft, die Verantwortung für ihre Taten kleinzureden und sich als Opfer dieser Veranlagung darzustellen?

    • @chirlu:

      Die Bezeichnung " pädokriminell" trifft den Sachverhalt am besten .



      Als mein Bruder von den Übergriffen berichtet hat, sind wir von den Tätern bedroht worden. Leider gab es auf dem Dorf in den 60er Jahren keine Selbsthilfe- und Beratungsstrukturen. Es steht zu befürchten, dass sich diese Sachlage nicht wesentlich gebessert hat.

  • Genau so ist es. Ich bin auch betroffen. Niemand hat mir geholfen. Meine Mutter hat weggesehen und meine Schwester schützt den Täter (ihren Mann) bis heute. Das alles liegt Jahrzehnte in der Vergangenheit. Und beeinträchtigt mein Leben bis heute.

  • Gaaanz heisses Eisen...

    "Geschwister, die sich nicht zu petzen trauen" und wenig später "Wer nicht hilft, hilft den Tätern – und macht sich mitschuldig"...

    Tja, ich war als Kind eines solcher Geschwister. Aber nicht, weil ich mich nicht "zu petzen getraut" habe, sondern weil ich selber als Kind in eine solche Situation hereingeboren und herein gewachsen bin. Und in solch einer Situation kommen einem Dinge gar nicht "komisch vor" bei denen ein Außenstehender sicherlich bereits Alarm geschlagen hätte.



    Man wird gewissermaßen "Betriebsblind" und man hat als heranwachsendes Kind sicherlich auch andere Dinge im Kopf als auf solche "Erwachsenenprobleme" zu achten - vor allem wenn man dafür nicht sensibilisiert worden ist. (Von wem auch?)

    Auch wenn ich nicht selber direktes "Opfer" gewesen bin betrachte ich mich im Nachhinein ebenfalls als Opfer - weil irgendwas war halt irgendwie komisch. Und das hat mir über lange Zeit keinen "normalen" Umgang mit "dem anderen Geschlecht" ermöglicht.



    Die erste "Mann-Frau" Beziehung hatte ich - obschon ich über 10 Jahre gerne eine gehabt hätte - erst mit 27 Jahren.



    Und als dann weitere ~ 10 Jahre später "die Bombe geplatzt" war und es ans Licht kam, da hat es meine Beziehung zu meiner Frau auch sehr belastet (bis heute noch).



    Man wird gewissermaßen in "Sippenhaft" genommen - und steht immer ein wenig unter "Generalverdacht" mit der Frage: "Ist eine solche Neigung erblich?"



    Eine Therapie kann helfen die Dinge etwas klarer zu sehen. Aber die Tatsache, dass so einige Personen (vormalige Freunde) sich nach dem "Platzen der Bombe" von mir abgewandt haben (Stichwort "Generalverdacht") hat mich halt auch noch > 20 Jahre später getroffen.



    Also bitte Vorsicht mit Schuldzuweisungen...