Nach der Wahl in Großbritannien: Erstmal reflektieren

Labour-Chef Jeremy Corbyn hat angekündigt, sich von der Parteispitze zurückzuziehen – allerdings nicht sofort. ParteikollegInnen missfällt das.

Ein älterer Mann im Anzug öffnet eine Tür.

Weigerte sich, einen klaren Standpunkt zum Brexit zu vertreten: Jeremy Corbyn Foto: Tom Nicholson/reuters

DUBLIN taz | Was die Partei jetzt brauche, sei eine „Zeit der Reflexion“, teilte Jeremy Corbyn am Tag nach der Unterhaus-Wahl mit. Der Labour-Chef hatte mit dem radikalsten Wahlprogramm seit Jahrzehnten das schlechteste Ergebnis seit 1935 erzielt. An seinen Versprechen – Bekämpfung der Klimakrise, Einführung der 32-Stunden-Woche, höherer Mindestlohn, Abschaffung der Studiengebühren – hätten, zumindest theoretisch, große Teile der Bevölkerung Gefallen finden können. Was allerdings fehlte, war eine klare Haltung zum Brexit.

„Unsere Partei repräsentiert Befürworter und Gegner des Brexits“, so Corbyn nach der Wahl. „Meine Strategie war es, diese Spaltung zu überwinden und die Menschen zusammenzubringen.“ Das ist dem 70-Jährigen gründlich misslungen. Corbyn hatte die EU in der Vergangenheit oft scharf kritisiert und konnte sich schon vor dem Referendum 2016 zu keinem eindeutigen Standpunkt durchringen.

Nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses kündigte Corbyn zunächst an, nicht ein weiteres Mal als Spitzenkandidat anzutreten, später teilte er mit, Anfang des nächsten Jahres zurücktreten zu wollen. Bis dahin bleibe er zum Reflektieren im Amt.

Sadiq Khan, Labour-Politiker und Bürgermeister von London, bat Corbyn, so schnell wie möglich seinen Rückzug anzutreten. „Es sind die vierten Wahlen in Folge, in denen Labour es nicht geschafft hat, dem britischen Volk eine überzeugende Alternative anzubieten. Wenn wir ehrlich sind, wussten wir genau, dass Jeremy Corbyn zutiefst unpopulär war. Eine Labour-Regierung nach diesen Wahlen war von Anfang an höchst unwahrscheinlich.“

Wer beerbt Corbyn?

Khan warf Corbyn außerdem vor, nicht genug zur Bekämpfung des Antisemitismus in seiner Partei getan zu haben. So hatte Corbyn sich bei einem Fernsehinterview mit Andrew Neil geweigert, die britischen Juden und Jüdinnen um Entschuldigung zu bitten. Es dauerte bis zum vergangenen Sommer bis Labour schließlich die Initiative „Kein Platz für Antisemitismus“ vorstellte.

Die britischen Medien fällten zu Labours Wahlniederlage teils harsche Urteile. So schrieb der Guardian, dass Corbyn sämtliche Fähigkeiten eines Parteiführers abgingen. Ihm fehlten mentale Beweglichkeit, Wortgewandtheit, Strategie, Humor und Charisma. Man hätte ihn hinauswerfen müssen, als klar wurde, dass mit ihm keine Wahl zu gewinnen sei.

2015 war Corbyn nach der Wahlniederlage seines Vorgängers Ed Miliband zum Vorsitzenden gewählt worden und hatte die Partei stark nach links ausgerichtet. Mehrmals hatte der rechte Parteiflügel in der Vergangenheit versucht, ihn abzusetzen. Nun gibt ihm dieser Flügel die Alleinschuld an dem desaströsen Ergebnis.

Lucy Powell, Labour-Abgeordnete aus Manchester, sieht die gesamte Partei in der Schuld: „Wir alle sind verantwortlich für diese katastrophale Niederlage. Ich glaube, es reicht nicht, sie an einem einzigen Punkt festzumachen. Es geht um eine ganze Bandbreite von Themen.“

Derweil wetten die BritInnen bereits, wer Corbyn wohl beerben wird. Keir Starmer, Brexit-Minister im Schattenkabinett und entschiedener Remainer, ist bei den Buchmachern klarer Favorit. Auch Rebecca Long-Bailey, Abgeordnete aus Salford bei Manchester, werden gute Chancen eingeräumt. Und Corbyn? In seinem Wahlkreis Islington gewann er souverän zum zehnten Mal in Folge. Ob er sich nun wieder auf die Hinterbänke setzen wird, weiß zur Zeit niemand.

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