Die Wahrheit: Das fünfundzwanzigste Jahr

Wer sein Leben lang gearbeitet hat, soll im Alter mehr haben als Grundsicherung. Haken: Man muss 35 Jahre lang Beiträge gezahlt haben. Da fehlen zehn!

Bindegewebe lügen nicht, sagte meine Physiotherapeutin neulich, und sie muss es wissen. Die Zeit frisst an unseren Körpern. Sie vergeht unweigerlich, sie verschwindet in den Ausgüssen wie abgestandenes Spülwasser. Bindegewebe lügen nicht, genauso wenig wie Rentenbescheide.

Andere haben es mit der Wahrheit nicht so drauf, zum Beispiel unsere Regierung. Aber das ist ja nichts Neues. Neu ist lediglich die Grundrente, die man bekommen wird, hat man vorher fleißig 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt. 35 Jahre! Auf diese Zahl komme ich frühstens im Jahr 2041, wenn ich 70 bin und der Klimawandel Vatis kleines Häuschen am Niederrhein aufgefressen, also mit den Grundwassern des Vergessens überschwemmt haben wird. Wo aber verschwinden die Jahre hin?

Zum Beispiel in den Universitäten. Ich habe auch einmal eine solche besucht, sie stand in Köln, das Denkmal des Namensgebers trug sehr lange pinkfarbene Miederwäsche, also Schlüpfer und BH. Sein Name war Albertus Magnus. Ich habe sehr gern studiert, in den fensterlosen Seminarräumen der „Philfak“ lernte man viel über Liebeskummer, Drogenmissbrauch, die Aufgeblasenheit der Politischen, die beim Studistreik reden hielten, als ob es um die kubanische Revolution ginge, über die aufgeblasene Wichtigtuerei von Subkulturen und ihren musikalischen Vertretern. Außerdem konnte man endlich ausschlafen; nach dreizehn langen Schuljahren hatte ich einiges aufzuholen.

Tatsächlich bestand das Glück in den Neunzigern aus Al Bundy und der „Mary Tylor Moore Show“ kurz nach Mitternacht. Aus im Bett rauchen. Vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen. Danach ein gutes Frühstück mit Zeitung und der zweiten Zigarette beim „Familien-Duell“ mit Werner Schulze-Erdel. Überhaupt schien RTL noch ein guter Sender zu sein – oder überhaupt ein Sender. Dann eine Verabredung im Café, ein Proseminar im Dunkeln und vielleicht ein zweites am Nachmittag, die Vorlesung schenken wir uns, ein Blickwechsel mit blauen Augen am Kaffeeautomaten, bis es Punkt halb sechs das Stammessen III in der Mensa gab und es später hieß: ausgehen.

Wat is?

Glückliche Jahre, die nirgendwo angerechnet werden. Warum eigentlich nicht? Es war ja nicht so, dass man gar nicht gearbeitet hätte. Im Gegenteil. Als Kind aus der unteren Mittelschicht war ich auf Studentenjobs angewiesen. Bürojobs, Auf- und Ausräumjobs, Arbeiten bei Sicherheitsdiensten, beim Theater und beim Fernsehen: Wer genau hinschaut, kann mich im jungen Alter als „Requisite im Bild“ in einigen Sendungen in den Archiven der Mediatheken des WDR sehen.

Es waren glückliche Jahre. Jahre, die fehlen. Im Lebenslauf, in der Biografie, im Rentenbescheid, in der Endabrechnung. Die zehn fehlenden, die zehn unangerechneten Jahre, der Grund, warum ich mich noch heute zehn Jahre nicht jünger, sondern zu alt fühle. Und doch – Bindegewebe lügen nicht.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

schreibt für die taz gern über Sport, Theater, Musik, Alltag, manchmal auch Politik, oft auch Literatur, und schreibt letzteres auch gern einmal selbst.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.