Das digitale Warten

Mit dem Smartphone in der Hand gibt es immer etwas zu tun: geliebten Menschen schreiben, Spiele spielen oder Arbeitsmails beantworten. Doch durch die Digitalisierung haben wir das Warten verlernt, gleichzeitig nimmt es immer mehr Zeit in unserem Leben ein

Filme gucken oder einen neuen Wintermantel bestellen, während man wartet, bis die Wäsche fertig ist? Dank Handy alles möglich Foto: Paul Langrock/Zenit/laif

Von Timo Reuter

Es könnte alles so schön sein: Die App zeigt rechtzeitig die Verspätung des Zuges an und wir trinken zu Hause in aller Ruhe den Tee aus, statt uns die Zunge zu verbrennen, um dann doch am Bahnhof in der Kälte warten zu müssen. Und wenn wir mal alleine an der Haltestelle stehen, genügt ein Griff in die Hosentasche und schon sehen wir unsere Liebsten auf dem Bildschirm. Die Digitalisierung hat nicht nur Revolutionen ermöglicht, sondern vor allem den Alltag umgewälzt. Dadurch hat sich auch unser Verhältnis zum Warten radikal gewandelt. Endlich sollen all die quälenden Zwangspausen der Vergangenheit angehören.

In der vormodernen Welt wäre das unvorstellbar gewesen. Das menschliche Zeitbewusstsein war von der ewigen Wiederkehr geprägt, vom Zyklus aus Tag und Nacht, aus Sommer und Winter. Das Leben galt als immerwährender Wandel zwischen den Ereignissen und dem Warten darauf. Fünf oder zehn Minuten zu spät kommen konnte man indes nicht – es gab schließlich noch keine Schweizer Uhren. Seit die Zeit aber in die Uhr gepresst und in der kapitalistischen Welt mit Geld verrechnet wird, bleibt für vermeintlich unproduktive Pausen keine Zeit mehr. Alles soll immer schneller werden und immer weiter wachsen.

Wie wir es im Alltag mit dem Warten halten, mit diesen kleinen, unscheinbaren Aufschüben, spiegelt also nicht nur unseren Umgang mit der Zeit wider, sondern auch den Geist unserer Epoche: der Zeit, seit die ersten Smartphones aufkamen. Das gesamte Wirtschaftssystem ist ja schon lange auf die sofortige Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet – durch die Digitalisierung soll dieses Versprechen nun endlich in Gänze wahr werden.

Wer einen Film schauen möchte, muss nicht tagelang auf die nächste Vorstellung warten, sondern kann sofort auf Play drücken. Und je schneller die Bits und Bytes schließlich durch den virtuellen Raum fliegen, desto überflüssiger soll die Verzögerung auch in der Kommunikation werden. Noch aus der Bahn können Kund*innen bestellen, was am nächsten Tag vor der eigenen Haustür liegt, während Menschen in der Lieferindustrie unter großem Druck arbeiten – oder auf den nächsten Job warten müssen.

Wer selbst über die eigene Zeit verfügen kann und wer nicht, das ist also stets auch Ausdruck der Machtverhältnisse. Dabei gilt heute als glücklich, wer nicht mehr warten muss.

Doch die Realität sieht anders aus. Noch immer sitzen wir ständig an der Bushaltestelle, am Bahnhof oder im Wartezimmer. Und zu allem Überfluss warten wir auch noch auf die Aktualisierung der Verspätungsmeldungen, auf Updates, Downloads – und auf neue Nachrichten.

Noch vor wenigen Jahren wurden Briefe geschrieben, und erst nach einigen Tagen setzte das Warten auf eine Antwort ein. In derselben Zeit, in der man einst einen Brief verfasste, schreiben wir heute 30 oder 40 Nachrichten – und direkt nach dem Absenden beginnt das Warten. Während viele Menschen eine Aufenthaltsgenehmigung, ein Spendeorgan oder eine schlimme Diagnose erwarten, ist das digitale Warten meist kurz und harmlos. Aber es nimmt eben doch kein Ende – und es belastet uns.

Es ist eine paradoxe Situation, denn ausgerechnet in der digitalen Welt wird das Warten geradezu exponiert – und damit rückt es ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Ob blaue und grüne Haken oder Ladebalken, ob die drei Punkte, während jemand zurückschreibt, oder die digitale Verspätungsanzeige am Bahnhof: Alles scheint irgendwie auf das Warten ausgerichtet zu sein.

Die postmoderne Erwartung, unsere Wünsche sofort zu erfüllen, ist allgegenwärtig, doch zugleich werden wir ständig auf das Gegenteil aufmerksam gemacht. Die kleinen und größeren Aufschübe stehen im digitalen Schaufenster – in einem äußerst ungünstigen Licht. Was lange eine kleine Abneigung war, ist dadurch zur schweren Allergie geworden: Egal, ob wir auf eine Nachricht oder auf Erkenntnisse, auf die Bahn oder eine Bestellung warten – es ist mitunter kaum erträglich.

Wir haben das Warten verlernt. Und das hat fatale Folgen. Nur wer geduldig ist, kann nämlich Vorfreude empfinden. Sie ist das Glück der Wartenden – und hat in Zeiten der Same-Day-Delivery keinen leichten Stand. So ergeht es in unserer schnellen Welt auch der Geduld. Komplexe Sachverhalte lassen sich kaum im Vorbeigehen erfassen, man muss Unklarheiten aushalten und beharrlich bleiben. Geduld ist aber auch wichtig, um abzuwägen und kluge Entscheidungen zu treffen. Auf den richtigen Moment und auf kreative Einfälle muss man warten können – im digitalen Zeitalter ist das keine leichte Übung.

Aber das Warten hat sich noch in anderer Weise verändert: Wenn wir an der Bushaltestelle oder am Bahnhof stehen, sind wir permanent beschäftigt und ständig erreichbar. Einfach warten? Wegen der digitalen Reizüberflutung ist das nur noch schwer vorstellbar. Aber ist das wirklich so schlimm? Wer definiert überhaupt, was zu viel, was gut und was schlecht ist? Ist die Trennung zwischen offline und online nicht ohnehin eine quasi steinzeitliche?

Seit die Zeit in der kapitalistischen Welt mit Geld verrechnet wird, bleibt für vermeintlich unproduktive Pausen keine Zeit mehr

Zu warten kann ziemlich anstrengend sein und doch wohnt diesem Zustand gerade im Alltag großes Potenzial inne – wenn wir das Warten als Sandkorn im Getriebe der pausenlosen Verwertungsmaschinerie begreifen. Und wenn wir diese Pause nutzen, um dabei in die Welt hinauszuhorchen und in uns hinein. Ohne Ärger und Ablenkung. Doch längst ist es eine Binsenweisheit, dass wir nie mehr ganz dort sind, wo wir gerade sind, seit das Internet mobil wurde. Selbst wenn wir schon am Gleis stehen, weil uns die App nicht rechtzeitig über die Verspätung informiert hat, müssen wir uns nie langweilen – unser Smartphone hält stets eine Überraschung bereit.

Momente der Einsamkeit oder der Langeweile scheint es kaum noch zu geben. In einer betriebsamen Welt war das tägliche Warten eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, um einfach mal im Hier und Jetzt zu verweilen und sich selbst zu spüren, um tagzuträumen oder nichts zu tun. Längst aber lauert ständig irgendwo eine neue Verlockung, eine ungelesene Nachricht, ein besseres Angebot.

Doch ohne Stillstand kein Antrieb, ohne Leerlauf keine Muße. Als sich Martin Luther fast ein Jahr lang gelangweilt auf der Wartburg versteckte, übersetzte er die Bibel ins Deutsche. Was wäre wohl gewesen, wenn er ein Smartphone bei sich gehabt hätte? Ob Isaac Newton wirklich den Apfel hätte vom Baum fallen sehen, um daraufhin die Gravitationslehre zu begründen, wenn er auf dem Tablet gespielt hätte, statt wartend und grübelnd im Garten zu sitzen?

Und unsere Kommunikation? Es braucht wenig Mut, jemanden online anzustupsen oder in sozialen Medien anonym mit Hetze zu überziehen. Wer hingegen am Bahnhof die Vereinzelung überwinden will, muss zunächst sich selbst überwinden. Das Warten wird so zum Möglichkeitsraum zufälliger Begegnungen und des persönlichen Austauschs. Aber auch dieser Austausch selbst braucht die Pausen: Sie erzeugen die Dramaturgie und verleihen dem Gesagten Gewicht. Erst in der bedeutungsschwangeren Zwischenzeit gedeiht unsere Fantasie. Sehnsucht und Hoffnung finden dort ebenso Platz wie die Sorge um andere, wenn die sich nicht melden. Diese Pausen verbinden uns als Menschen. Doch in der digitalen Echtzeit spricht die Zeit kaum noch. Mit der Zeit ist es ja heutzutage so, dass sie vor allem verfliegt.

Vielleicht kann uns das Warten die Zeit ja zurückbringen. Zumindest aber kann es uns wieder mit ihr verbinden – wenn wir unser Smartphone denn mal lautlos stellen. Es wäre ja auch absurd, ausgerechnet das, was uns so wertvoll ist und wovon wir so wenig zu haben scheinen, beim Warten totschlagen zu wollen: die Zeit.

„Warten. Eine verlernte Kunst“, Timo Reuter, Westend Verlag, November 2019, 240 S., 18 Euro