Dokumentarfilmfestival in Leipzig: Ein Thriller über den Sturm

Geschichten erzählen ist ein starker Trend beim Dokumentarfilmfestival DOK Leipzig. Geehrt wurde der Defa-Dokumentarfilmer Eduard Schreiber.

Vor grün bemalten Wänden sitzt ein Greifvogel auf einem Baumstumpf, Hackfleisch ist ausgelegt.

Aus dem Film „Bird Island“, Greifvogel in künstlicher Welt Foto: DOK Leipzig 2019/Maya Kosa, Sergio da Costa

Skeptisch beäugt der Vogel die Apfelscheibe. Vorsichtig arbeitet er sich den Ast entlang näher heran, bis er den Apfel gerade ebenso erreicht, wenn er sich über die gesamte Körperlänge seitwärts streckt. Sergio da Costa und Maya Kosa dokumentieren in ihrem Film „L’île aux oiseaux“ (Die Vogelinsel) die Arbeit in einer Vogelpflegestation.

Der junge Antonin wurde nach längerer Krankheit und Selbstisolation an die Station verwiesen, um im Mikrokosmos der Station und ihrer Handvoll Mitarbeiter wieder sozialen Umgang zu erlernen. Die Schratigkeit der Menschen steht denen der Vögel in nichts nach. Paul, dessen unerschöpflicher Vorrat an Karohemden verlässlich über dem Bauch spannt, geht in Kürze in Rente und Antonin soll dessen Stelle übernehmen, soll Mäuse und Ratten aufzüchten, die als Futter für die Vögel gedacht sind.

Die Behandlung der Vögel übernehmen Sandrine, die Tierpflegerin, und Émilie, die Tierärztin der Station. Wie beiläufig dringen in „L’île aux oiseaux“ die Veränderungen der Lebenswelt in den Mikrokosmos. Die Verletzungen verändern sich, neue Probleme stellen sich ein.

Der Dokumentarfilm von Da Costa und Kosa verwebt dokumentarische Passagen mit zusätzlich verfassten Texten, vor allem von Antonin, dem Protagonisten. Damit markiert der Film beinahe schon einen Grenzfall des Dokumentarfilms zum Spielfilm. Er liegt damit zugleich im Trend: Der Dokumentarfilm ist narrativer geworden in den letzten 15 Jahren. Das zeigte sich auch im übrigen Programm des diesjährigen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK Leipzig), wo „L’île aux oiseaux“ letzte Woche seine internationale Premiere feierte.

Ein Hof zieht über Land

Vor allem die vom Fernsehen koproduzierten Dokumentarfilme sind immer stärker bemüht, ihr Material in eine Erzählung zu pressen. Das eindrücklichste Beispiel war dieses Jahr Michał Bielawskis „The Wind – A Documentary Thriller“ über einen Föhnwind in der polnischen hohen Tatra. Bielawski montiert aus dem Material mehrerer Stürme eine Erzählung über den Ausnahmezustand der Natur, der mit dem Auftreten des Windes einhergeht. Menschen begehen Selbstmord oder drohen es an, Streitereien eskalieren.

Etwas weniger ausgeprägt ist die Narrativisierung in „The ­Royal Train“ des österreichischen Regisseurs Johannes Holzhausen. Holzhausen folgt den Bemühungen der Mitglieder des rumänischen Königshauses, nach dem Ende des Kommunismus den Status der Monarchie wieder zu verbessern. In Wahrung der Tradition unternimmt die Thronerbin mit ihrem Mann und Gefolge eine Rundfahrt durch das Land im Hofzug. An den Bahnhöfen der Provinz treffen die Einfahrt des Zuges und der Pomp des strengen Protokolls auf widrige Umstände und Desinteresse, zugleich aber auch auf Freude am Spektakel.

Das Festival bot in unzähligen Reihen, deren Abgrenzung zueinander nicht immer ganz klar wurde, einen Überblick über das aktuelle Dokumentarfilmschaffen weltweit, aber traditionell mit einem Fokus auf Osteuropa. Wer sich durch den unübersichtlichen Katalog wühlte, wurde mit einer Vielzahl von dokumentarischen Formen aus Gegenwart und Vergangenheit belohnt.

Eine ganze Reihe historischer Programme widmete sich in diesem Jahr dem Defa-Dokumentarfilmer Eduard Schreiber. Zu den eindrücklichsten Filmen Schreibers gehörte „Ich war ein glücklicher Mensch“. 1990, im Jahr der Wiedervereinigung, porträtiert der Film den Journalisten Tilbert Eckertz, der in der DDR wiederholt verhaftet wurde und dennoch unbeirrt am Glauben an den Kommunismus festhielt. In Gesprächen mit Eckertz und seinen beiden Töchtern werden die Konfliktlinien in der Familie und Eckertz’ Überzeugungen herausgearbeitet. Schreibers Film lässt sich auch als kluge, subtile Intervention in die zeitgenössische Diskussion über die Reformierbarkeit der DDR und Dissidenz verstehen.

Verfolgung Andersdenkender

Ute Adamczewskis Film „Zustand und Gelände“, der den Preis des deutschen Wettbewerbs gewann, verdichtet Bilder aus dem Sachsen der Gegenwart mit einem Audiokommentar, in dem die Regisseurin schriftliche Zeugnisse aus der Verfolgung Andersdenkender in der Frühzeit des Nationalsozialismus liest. Im Fokus des Films stehen die frühen Konzentrationslager, die in Sachsen durch den hohen Organisationsgrad der Arbeiterinnen und Arbeiter besonders zahlreich waren. Die Kombination der Alltagsbilder und der Zeugnisse der Gewalt im Audiokommentar zeichnen eine schleichende Brutalisierung nach. Die Reise durch das Bundesland wird zu einer Spurensuche, die die Allgegenwart nationalsozialistischer Gewalt sichtbar macht.

Der Fokus von DOK Leipzig lag auch in diesem Jahr auf den Dokumentarfilmen, die Bandbreite von Animationsfilmen war deutlich geringer. Dabei hat sich erneut gezeigt, dass die größte Formenvielfalt im Dokumentarfilm unter den kürzeren Filmen zu finden ist. Während vor allem die vom Fernsehen koproduzierten Anderhalbstünder zunehmend durchformatiert wirken und selbst die positiven Beispiele einander unangenehm ähneln, sprießen die Formen bei Filmen, die kürzer oder länger sind als die fernsehtauglichen 85 bis 88 Minuten.

Inmitten des Festivals wurde der Wechsel in der Leitung bestätigt. Die finnische Produzentin Leena Pasanen geht und der ehemalige Leiter des Berlinale-Forums, Christoph Terhechte, übernimmt 2020. Bleibt abzuwarten, ob er neben der Rasenfläche des abendfüllenden Films auch die bunten Blumenbeete der Formatvielfalt erhalten und eventuell ausbauen kann.

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