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Große Verantwortung

Die Berliner jüdischen Glaubens feiern noch bis Sonntag das Laubhüttenfest – unter stärkerer Bewachung als zuvor. Das Attentat in Halle (Saale) verunsichert die Gemeinde. Eine Bestandsaufnahme

Von Anna Klöpper und Anina Ritscher (Text) und Anja Weber (Fotos)

Vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße stehen zwei Polizeibeamte im ­feinen Nieselregen und amüsieren sich über irgendetwas auf dem Smartphone des einen Kollegen. Wie immer haben sie den abgetrennten Sicherheitsbereich auf dem Gehweg vor der Synagoge für sich. Wie sonst nicht, haben sie eine Hand am Lauf der offen getragenen Maschinenpistolen, die nach unten auf den Gehweg zeigen.

Sigmount A. Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde, wartet hinter der Sicherheitsschleuse am Eingang zu der öffentlichen Ausstellung in der Synagoge und reicht die Hand. Der verstärkte Wachschutz draußen, ja, daran möge man sich nur schwer gewöhnen.

Königsbergs Arbeitsplatz könnte zentraler kaum sein in dieser Stadt. Zugleich ist die zentrale Synagoge der Jüdischen Gemeinde zu Berlin eine Art gut bewachte Burg: Die Gemeinde ist mittendrin – doch das ist eine Selbstverständlichkeit, die man mit Maschinenpistolen bewachen muss.

Es ist Mittwoch, der erste Mittwoch nach Halle (Saale) – nach dem versuchten Attentat auf die jüdische Synagoge im Hallenser Paulusviertel, bei dem der Neonazi Stephan B. zunächst an der Holztür des Gotteshauses scheiterte und hernach in scheinbarer Seelenruhe und erschreckend lange unbehelligt durch Einsatzkräfte der Polizei zwei Menschen erschoss: eine Frau, die gerade vom jüdischen Friedhof kam, und einen Mann in einem Döner-Imbiss.

Der Reflex kurz danach, auch in Berlin: Solidarität zeigen. „Wir müssen als Gesellschaft zusammenstehen“, sagte die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD). Am Abend des 9. Oktober hatte sie eine spontane Mahnwache vor der Synagoge in der Oranienburger Straße organisiert. Der Innensenator war da, auch die Kanzlerin. Am Sonntag nach dem Anschlag und genau ein Jahr nach der großen Demo gegen rechts versammelten sich unter dem Motto #Kein­Fuss­breit Tausende auf dem Bebelplatz in Mitte. #Unteilbar.

Und jetzt? Was bleibt von Halle, nach dem obligatorischen Aufmuskeln vor den rund 60 jüdischen Einrichtungen in Berlin? Was bleibt, wenn nach dem ersten Zusammenstehen alle wieder auseinandergehen?

Spricht man mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, dann hört man vor allem zwei Dinge: Verunsicherung – und, an die Adresse von Politik und Sicherheitsbehörden, eine Verantwortung, die aus Halle erwächst.

Der Reflex kurz danach, auch in Berlin: Solidarität zeigen

Königsberg, der Antisemitismusbeauftragte, sagt, er habe keine Angst, nicht wirklich. „Dann müsste ich ja meine Sachen packen und gehen.“ Aber er sei viel unterwegs auf Facebook, und da registriere er inzwischen viele Stimmen „von Leuten, die hier eigentlich sehr verwurzelt sind, die sagen: Wir prüfen unsere Optionen.“ Die „entspannte Selbstsicherheit“, die es vielleicht vor zehn Jahren noch gegeben habe, „die gibt es nicht mehr“.

Ruben Gerczikow, Vorstandsmitglied bei der Jüdischen Studierendenunion JSUD in Berlin, würde dem widersprechen: „Die älteren Menschen, die erste Generation nach dem Krieg, die haben immer noch diese Einstellung vom ‚Sitzen auf gepackten Koffern‘, das Gefühl, sie müssen jeden Moment fluchtbereit sein.“ Bei den jüngeren Generationen sei das weniger ausgeprägt. Der Publizistikstudent will mit der Studierendenunion innerhalb der eher älteren Berliner Gemeinde auch ein Angebot für die jüngere Generation schaffen. Halle, sagt er, schüchtere ihn nicht ein: „Wir sind hier, wir werden bleiben, und wir gehören dazu.“

Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber wie kann sie gelingen, ohne dass man sie notfalls mit dem Maschinengewehr verteidigen müsste?

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