250 Jahre Alexander von Humboldt: Humboldts langer Schatten

Jetzt feiern alle den 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt. Einige Aspekte seines Lebens werden allerdings ganz gerne ausgeklammert.

Lichtgestalt mit Schattenseiten: Alexander von Humbolt Foto:

Er war ein Tausendsassa, betrieb Botanik, Geologie, Mineralogie, Zoologie, befasste sich mit Physik, Chemie, Wirtschaft und Demografie und vielem mehr. „Sein bahnbrechendes Denken, seine Vorstellungen von der Natur und unserem Platz darin haben die Wissenschaft für immer verändert“, schreibt die Historikerin Andrea Wulf. Er kannte die berühmtesten Männer seiner Zeit, war befreundet mit Goethe und Thomas Jefferson, verkehrte mit Königen. Er wurde verehrt von Südamerika bis Russland, war der berühmteste Wissenschaftler seiner Zeit – und ist es vielleicht bis heute.

Wenn Alexander von Humboldt an diesem Samstag 250 Jahre alt wird, gehen die Feierlichkeiten zu seinen Ehren noch lange nicht zu Ende. In seiner Geburtsstadt Berlin – wie an vielen Ort der Welt – gab und gibt es Vorlesungen, Konferenzen, Ausstellungen, Experimentierkurse, Schnitzeljagden, Theaterstücke …

Die größte Party ist dagegen ausgefallen: Die Eröffnung des Humboldt Forums im wiedererstandenen Preußen-Schloss sollte die Krönung der Feierlichkeiten werden, sie wurde verschoben, weil technische Gründe den Einzug der Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst vorerst unmöglich machten. So findet am Wochenende nur eine recht bescheidene Sause in den fertigen Teilen der Schlosskopie statt.

Aber was soll die Humboldt-Manie überhaupt? Kritiker des Forums sagen schon lange, die Inszenierung der Brüder Wilhelm und Alexander als nationale Ikonen, die für die Gleichberechtigung der Weltkulturen, den vorurteilslosen Geist der Aufklärung und unbändige wissenschaftliche Neugier stehen, übertünche den grundsätzlichen Widerspruch des Projekts – nämlich größtenteils im Kolonialismus „gesammelte“ Objekte und Werke ausgerechnet in einem an wilhelminisches Weltmachtstreben erinnernden Prunkgebäude auszustellen.

„Das neue Schloss als Humboldt Forum zu definieren war ein vorhersehbarer Kniff – ein Weg, das Gebäude und seinen Inhalt zu legitimieren, indem man eine Verbindung zwischen der kosmopolitischen Wissenschaft Alexander von Humboldts und der imperialen preußischen Vergangenheit herstellte“, schreibt der US-amerikanische Ethnologe Glenn Penny in seinem neuen Buch „Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie“. Vorhersehbar war der „Kniff“, weil schon oft erprobt: Seit Humboldts Tod habe „jedes Regime in Deutschland seinen jeweiligen Humboldt reklamiert und oft sogar erfunden“, sagt Michael Zeuske, Humboldt-Forscher und Historiker am Institut für Ibero- und Lateinamerikanische Geschichte der Uni Köln.

Im Humboldt-Bild, das bei der Werbung für das Schloss gezeichnet wurde, sind vor allem die Leerstellen beredt: Sie verweisen auf grundsätzliche Fragen – danach, ob Wissenschaft wirklich so wertfrei ist, wie wir gern glauben möchten. Oder danach, was sie uns enthüllt: die „Wahrheit“ über die „Welt“ – oder nur, von wo aus wir auf sie schauen?

Keine Frage: Humboldt war Humanist und Republikaner, erklärter Gegner der Sklaverei, der er auf seiner langen Reise durch Amerika allerorten begegnete, Kritiker des Kolonialsystems sowie überhaupt von absolutistischer Unterdrückung. Gleichzeitig war er getrieben von Wissensdurst und dem Leitbild eines kosmischen Zusammenhangs von allem mit allem – was ihn wesentlich offener machte für „Fremdes“ als viele seiner Zeitgenossen.

Bemerkenswerter Opportunismus

Gleichzeitig legte der Forscher einen bemerkenswerten Opportunismus an den Tag, um die Reisen zu ermöglichen, bei denen er die Welt vermessen wollte. Im Gegenzug für die Erteilung von Reisevisa und praktische Unterstützung versorgte er die spanische Kolonialverwaltung in Südamerika mit neuen Erkenntnissen, etwa „über die Geografie und Statik der Kolonien, die dem Mutterlande von einigem Nutzen sein konnte“, wie er notierte.

Noch offenkundiger war die Kollaboration bei seiner späteren Russlandreise, die komplett vom Zaren finanziert wurde. Der mache das ganz uneigennützig, um „den Wissenschaften förderlich zu sein“, konstatierte Humboldt etwas naiv. Im Gegenzug werde er, Humboldt, „dem Bergbau und dem Gewerbfleisse Russlands Nutzen schaffen“ – was er mit seinen Untersuchungen von Minen, Gruben und Steinbrüchen sowie der geologischen Beschaffenheit des Urals auch tat. In einem Brief versprach der Forschungsreisende dem Bevollmächtigten des Zaren, Graf Georg von Cancrin, er und seine Reisebegleiter würden sich „nur auf die todte Natur beschränken und alles vermeiden, was sich auf Menschen-Einrichtungen, Verhältnisse der untern Volksklassen bezieht“.

Bisweilen verhielt sich Humboldt sogar skrupellos. In seinen Reiseerzählungen beschreibt er, wie er anno 1800 in der Höhle von Ataruipe im heutigen Venezuela mehrere Skelette und Schädel des indigenen Volks der Atures gegen deren erklärten Willen stahl. Zwar scheint ihm in der Rückschau durchaus ein schlechtes Gewissen ergriffen zu haben, aber „die europäische Sammelleidenschaft, der Empirismus und die Einordnung in die damals extrem ‚moderne‘ Anthropologie waren ihm wichtiger als Aberglaube und Totenkult – zumal Humboldt eben völlig religionsfrei war“, erklärt Historiker Zeuske.

Die meisten der geraubten Knochen gingen übrigens bei einem Schiffbruch verloren. Ein Schädel gelangte jedoch wie geplant nach Göttingen zu Humboldts Lehrer Friedrich Blumenbach, einem Anthropologen, der mit vergleichenden Schädel-Studien einer der ersten Vertreter pseudowissenschaftlicher Rassenkunde wurde.

Die sich im 19. Jahrhundert entwickelnde Ethnologie folgte Humboldts Pfaden – im Guten wie im Bösen, könnte man sagen. So habe sich der „Vater“ der deutschen Ethnologie und Gründungsdirektor des Berliner Völkerkundemuseums, Adolf Bastian, ausdrücklich auf Humboldts Überzeugung gestützt, „dass die Naturwissenschaften einen Weg zum Verständnis der kosmischen Harmonie der Welt boten“, schreibt der Ethnologe Penny. Bastian habe die „Weltanschauung jeder Kultur“, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede mittels ethnografischer Objekte, „die zugleich Texte sind“, beschreiben wollen. Seine Vision: eine „Gesamtgeschichte der Menschheit“.

Hektische Sammelwut

So begann das Sammeln der Ethnologen, die durch Vergleiche möglichst vieler Alltags- und Kultgegenstände Erkenntnisse über das Andere, Fremde gewinnen wollten. Immer hektischer wurde ihre Sammelwut, weil sie zu Recht befürchteten, dass Kolonialismus und Imperialismus schon bald die von Europa „entdeckten“ Kulturen verändern, ja zerstören würden. Aus hehren Motiven – für die Wissenschaft retten, was zu retten ist – seien Bastian und seine Mitstreiter daher „Teufelspakte“ eingegangen, so Penny.

Sie beschafften sich etwa Raubgut aus kolonialen Straf­expeditionen, wie der englischen von 1897 gegen das Königreich Benin (heute Nigeria) – kurz darauf wurde der europäische Kunstmarkt geradezu überschwemmt. Rund 530 Objekte aus Benin – inklusive einige der weltberühmten Bronzen – befinden sich bis heute in Berlin, etwa die Hälfte von ihnen soll im Humboldt Forum ausgestellt werden, erklärt die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) auf Anfrage.

Insgesamt profitierte die neue Wissenschaft laut Penny ungemein von der kolonialen Expansion. Bastian und seine Leute schrieben Instruktionen für das Sammeln durch Soldaten, schufen ein Netzwerk von Sammlern unter Kolonialbeamten und Militärs. Sein Nachfolger Felix von Luschan spannte die Kolonialtruppen sogar zum Einsammeln von Knochen und Schädeln in „Deutsch-Südwestafrika“ ein.

So entstand eine der größten ethnologischen Sammlungen der Welt. Die SPK als deren Verwalterin zeigte sich von dieser Geschichte allerdings lange unbeeindruckt. Als 2013 die Debatte über das neue Schloss und seinen Inhalt vom postkolonialen Bündnis NoHumboldt21 angestoßen wurde, hieß es aus der Stiftung, alle Objekte seien in rechtmäßigem Besitz Berlins.

Heute betont Stiftungspräsident Hermann Parzinger, allenthalben, die Erforschung der Provenienz und die Auseinandersetzung mit den Erwerbsumständen sei integraler Bestandteil ihrer Arbeit. In der künftigen Ausstellung, so eine Sprecherin, werde in einigen Modulen – etwa zum Sammler Jakobsen, zu Benin oder dem Humboldtstrom – „besonders ausführlich auf den kolonialen Kontext eingegangen“. Deutsche Kolonialpolitik komme vor allem in der Ausstellung zu Kamerun vor. Auch arbeite man „multiperspektivisch“ mit KuratorInnen etwa aus Tansania zusammen, die „mit einigen Objekten ihre Sicht auf die deutsche Kolonialzeit und den Maji-Maji-Krieg deutlich machen“.

Die Stellen für Provenienzforschung im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin seien seit 2008 massiv auf derzeit rund 9 aufgestockt worden, vier 2019 dazugekommene würden derzeit besetzt. Im Übrigen habe die SPK bereits wiederholt Objekte in ihre Herkunftsländer zurückgegeben, etwa 2018 neun Gegenstände aus Chenega Island an der Südküste Alaskas an die Chugach Alaska Corporation.

Geschenkt ist geschenkt?

In einer Sache bleibt man jedoch hart: Zwar sei man gewillt, jedes Objekt, das in einem „Unrechtskontext“ nach Berlin gelangt sei, zurückzugeben, aber nicht jede Erwerbung aus der Kolonialzeit sei automatisch als unrechtsbehaftet zu betrachten. „Im Kontext des Kolonialismus gab es auch Geschenke“, sagte Lars-Christian Koch, Direktor für die Sammlungen der Staatlichen Museen im Humboldt Forum, in einem Interview mit der Zeit.

Aber gab es Freiwilligkeit im kolonialen System? Nach der Lektüre des Berichts der an der TU Berlin lehrenden Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und des Ethnologen Felwine Starr, die die Frage der Restitution afrikanischer Kulturgüter voriges Jahr im Auftrag des französischen Präsidenten Emanuel Macron untersucht haben, bleiben starke Zweifel. Gewiss sei viel gekauft worden, aber unter kolonialen Bedingungen „ist es problematisch, die Geldzahlungen (…) als Beweis für das Einverständnis der betroffenen Bevölkerung zu interpretieren“, ­schreiben die beiden. Auch „andere Formen von Erwerb, der Tausch oder die Schenkung, unterstanden derselben Logik von Bedrängung oder mehr oder weniger offenem Zwang.“

Savoy und Sarr verweisen auf den Ethnologen Claude Lévi-Strauss und dessen selbstkritisches Diktum, seine Disziplin sei die „Tochter eines Zeitalters der Gewalt“. Sie fahren fort: „In unseren Hauptstädten des 21. Jahrhunderts sind die ethnografischen oder sogenannten universellen Museen, die die koloniale Ernte eingefahren haben, die Kinder dieses Zeitalters. Zerstörung und Sammlung sind zwei Seiten derselben Medaille.“

Für Frankreich schlagen sie daher vor: „zügige Restitution ohne zusätzliche Provenienzforschung“ von Objekten, die im Afrika der Kolonialzeit gewaltsam in Besitz gebracht wurden – und zwar nicht nur durch Militärs, sondern auch durch Forschungsexpeditionen vor 1960 (dem Ende des französischen Kolonialreichs). Letztlich laufen die Vorschläge der beiden auf eine Umkehrung der Beweislast hinaus: Nur was zweifelsfrei einvernehmlich erworben oder von Staatsoberhäuptern geschenkt wurde, soll in den Sammlungen bleiben.

Glenn Penny dagegen hält die Restitutionsfrage nicht für die vordringlichste. Für ihn sind Kolonialismus, Zerstörung und Gewalt sowie Wissenschaft, Sammlung und Rettung nicht zwei Seiten einer Medaille – er meint, den reinen „humboldtschen“ Wissensdrang von der Korruption durch „Teufelspakte“ trennen zu können. Daher plädiert er dafür, mit den „geretteten“ Objekten endlich Adolf Bastians Vision zu verwirklichen, wozu es mangels Platz und Geld nie gekommen sei: die Erforschung der bis heute vielfach in Depots schlummernden Objekte hinsichtlich ihrer Informationen über die „Menschheitsgeschichte“. Also: Statt Millionen fürs Humboldt Forum – einer, so Penny, bloßen „Schausammlung“ zu Erbauungszwecken – brauche es mehr Kuratoren, mehr Forschung an den Sammlungen, mehr Kopplung an die Universitäten, mehr Arbeitsbeziehungen „mit dazu bereiten indigenen Gruppen“.

Für den Historiker Christian Kopp von NoHumboldt 21 ist diese Vision eines „Universalmuseums der Menschheitsgeschichte“ allerdings auch „nur eine unkritische Glorifizierung eurozentrischer Wissenschaft“. Nicht nur schließe „Pennys vermessenes Konzept die physische Rückgabe einer größeren Zahl von geraubten Kulturschätzen an die Urhebergesellschaften aus. Es ignoriert auch, dass diese Objekte in Berlin für die meisten der von Europa ausgesperrten Nachkommen ihrer Schöpfer*innen für immer unerreichbar bleiben.“

Kopps Mitstreiter Mnyaka Sururu Mboro stellt zudem fest: Zwar stelle sich das Forum inzwischen der von NoHumboldt angezettelten Debatte. „Aber ihr Ausgang ist ja noch keineswegs entschieden. Die Ausstellung kolonialer Beute ist weiterhin fest geplant, und eine Bereitschaft zu konkreten juristischen oder gar physischen Rückgaben lässt sich fast nirgendwo entdecken.“

Auch dem Ethnologen Wolfgang Kaschuba bereitet das Humboldt Forum weiter „Kopfschmerzen“. Zwar hätten dessen Macher inzwischen „im Detail“ viele Themen und Objekte „neu bestimmt“, konzediert er. Dennoch vermisse er bis heute die notwendige Dekonstruktion der Sammlungen als spezifische Deutungsperspektive der Welt: „Die Sammlungen entstanden als koloniale Bricolage kultureller Objekte – aus der historischen Sicht der wilhelminischen Gesellschaft, die in der Zeit der kolonialen Eroberungen gleichzeitig ihren Blick auf das Kulturelle neu konstruiert: als eine sammelnde, bewahrende, systematisierende, aber eben auch hegemoniale Vermessung der Welt.“

Das heiße nicht, so Kaschuba, dass er keine Sympathien habe für die Bastians und Humboldts – in der Tat wäre ja „vieles verloren gegangen, wenn es diese Sammlungsidee nicht gegeben hätte“. Man dürfe sich aber heute auch nicht mit der Feier von Humboldts Wissensstand und seiner Weltanschauung begnügen. „Insofern wäre dem Humboldt Forum eine Post-Humboldt-Perspektive zu wünschen, die zwar auf seiner aufbaut, aber auch bewusst die Schwächen in seinen Weltbildern wie denen der Aufklärung und der Moderne kritisch aufarbeitet.“

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