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Geschichtsstunde am Massengrab

In der Ukraine steht der Holocaust offiziell auf dem Lehrplan. Ob er unterrichtet wird, hängt vom Lehrer ab. Wenn aber eine Gedenkstätte neu eröffnet wird, nehmen die Dorfschulen gerne teil

Aus Kalyniwka, Iwanopil, Diwoschyn Bernhard Clasen

Umringt von Schulkindern sitzt die über 80-jährige Bäuerin auf einer Bierzeltbank. Heute, an einem heißen Tag im Juni, ist in ihrem Dorf Kalyniwka im Norden der Ukraine etwas Besonderes los. Für Menschen, die in ihrem Dorf Zuflucht gesucht haben und hier ermordet worden sind, wird ein Denkmal eingeweiht. Menschen, die sie als kleines Mädchen noch persönlich kennen gelernt hatte. Dort seien sie gestanden, die „Zigeunerfamilien“, erinnert sich die Bäuerin und deutet auf eine kleine Informationsstele, die in der Nähe des Ortes aufgestellt ist, an dem vor über 70 Jahren eine kleine Scheune gestanden haben muss. Und dann erzählt die Frau mit dem grünen Kopftuch, was sie als kleines Mädchen Schreckliches mit angesehen hat. Wie auch viele andere Dorfbewohner.

Gut drei Dutzend Schülerinnen und Schüler aus der Mittelschule von Kalyniwka sitzen neben ihr und lauschen den Erinnerungen der alten Frau. Ein Zwölfjähriger hält ihr einen Schirm über den Kopf, um sie so vor der Gluthitze zu schützen. Trotz der Sommerferien sind die Schülerinnen und Schüler gekommen, so die Dorflehrerin, sie könnten hier mehr von der Geschichte ihrer Heimat erfahren als im Unterricht.

Was die Schülerinnen und Schüler an diesem Tag über die ukrainische Geschichte erfahren, ist nicht sonderlich schön: Vor mehr als 70 Jahren wurden in ihrem Ort 32 Roma umgebracht. Von Deutschen, die das Land zwischen 1941 und 1944 besetzt hielten und über eine Million Juden und 12.000 Roma bei Massenerschließungen ermordet haben. Landesweit gibt es etwa 2.000 jüdische Massengräber. Für ermordete Roma sind 139 Orte der Vernichtung dokumentiert. Bis heute sind erst wenige dieser Massengräber als solche ausgewiesen. Und bis heute ist die Frage der ukrainischen Beteiligung am Holocaust ein Tabuthema im Land. Erst vor fünf Jahren hat das ukrainische Ministerium für Bildung und Wissenschaft einen Lehrplan zur Geschichte des Holocausts herausgegeben und verfügt, dass in der ersten Unterrichtsstunde am 1. September über die Tragödie von Babyn Jar zu sprechen ist, einer Schlucht bei Kiew, in der über 33.000 Juden ermordet worden sind und in der lange Jahre nur der friedlichen sowjetischen Bürger erinnert wurde.

Roma-Gedenkstätte

Im Juni diesen Jahres hatte die in Berlin ansässige Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas mehrere Denkmäler für die von Deutschen ermordeten Juden und Roma an ukrainischen Orten eingeweiht. Dass nun auch der ermordeten Roma gedacht wird, ist neu in der Ukraine. „Ich habe vor wenigen Jahren von den Hinrichtungsstätten erfahren“, berichtet der Direktor des Kiewer Roma-Theaters, Igor Krykunow, der taz. Und dann habe er zunächst einen langen bürokratischen Kampf geführt. Im Endeffekt sei es ihm gelungen, in Zusammenarbeit mit ukrainischen und deutschen Beamten und Diplomaten und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas den Bau mehrerer Gedenkstätten für in der Ukraine erschossene Roma aufzubauen. Derzeit betreut das von der deutschen Bundesregierung finanzierte Projekt „Erinnerung bewahren“ der Stiftung in zwölf ukrainischen Ortschaften drei Roma-Gedenkorte sowie zwölf Gedenkorte für ermordete Juden.

Auch in dem Dorf Iwanopil wurde im Juni eine Informationsstele für die dort ermordeten Roma und Juden eingeweiht. Und wie bei der Einweihung des Gedenkorts in dem Örtchen Kalyniwka ist auch hier eine Schulklasse anwesend. „Im Geschichts- und Heimatkundeunterricht lernen die Kinder, was während des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung passiert ist“, erzählt Liliya Mudruk, Direktorin des Dorfgymnasiums. Sie wüssten von den Konzentrationslagern, vom Massenmord in der Schlucht Babyn Jar, von der Vernichtung von Juden und Roma. „Doch das ist mir zu wenig“, sagt Mudruk. „Die Kinder müssen nicht nur Fakten wissen, sie müssen auch spüren, was für Schrecken das waren“, sagt sie.

Und dann erzählt die Direktorin, wie sie als kleines Mädchen heimlich beobachtet hat, wie man ein paar Jahre nach Kriegsende die sterblichen Überreste der ermordeten Roma ausgegrub. Was sie dabei gefühlt habe, stehe in keinem Geschichtsbuch. „Doch genau diese Gefühle will ich meinen Schulkindern weitergeben.“ Sie sei froh, dass man nun in ihrem Dorf eine Informationsstele für die Ermordeten errichtet habe – gegen das Vergessen. Sie habe Angst gehabt, dass das Wissen um die schrecklichen Morde in einer Generation verloren sei. Doch nun, da die Stele da sei, könne sie ruhiger schlafen.

Sie liebe ihre Heimat, die Ukraine, sie sei Patriotin. „Doch ich sage meinen Kindern: Wenn ihr wollt, dass die anderen Länder uns respektieren, dann müssen auch wir die anderen Länder, Völker und Kulturen respektieren.“ Und nirgends könne man derartiges besser sagen, als hier an dieser Gedenkstätte. Sie hält es für wichtig, dass der Holocaust Teil des Geschichtsunterrichts ist. Doch letztendlich hinge es vom konkreten Lehrer ab, ob die Kinder wirklich etwas aus dieser Zeit von der Schule mitnehmen.

Denn wie viele Stunden eine Lehrkraft im Unterricht für den Holocaust verwendet, ist nicht vorgeschrieben. Es wird zwar erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler die im Lehrplan gesteckten Unterrichtsziele erreichen. Aber kontrolliert wird das so gut wie nie. Michailo Gavriljuk bezeichnet das als Problem. Der wissenschaftliche Mitarbeiter im Geschichtsmuseum Michail Gruschewskij arbeitet auch als Lehrer einer Kiewer Schule. „Problematisch finde ich, dass die Kinder nur in der 5. Klasse und dann erst wieder in der 10. und 11. Klasse etwas über den Holocaust erfahren. Die Kinder haben zwei, maximal drei Unterrichtsstunden in der Woche Geschichtsunterricht. Und wie viel Raum dabei dem Holocaust gewidmet wird, hängt vom einzelnen Lehrer ab.“

Die Abhängigkeit von der Lehrkraft ist nicht sein einziger Kritikpunkt am Geschichtsunterricht. Es reicht nicht, dass Kinder Geschichte lernen, man muss Geschichte so lehren, dass sich die Kinder auch dafür interessierten, sagt Gavriljuk. Einige Kinder denken, Geschichte brauche man doch nicht im Leben. Die Frage ist also, ob der Lehrer es schafft, die Kinder wirklich für die Geschichte zu interessieren.

„Die Kinder müssen nicht nur Fakten wissen, sie müssen auch spüren, was für Schrecken das waren“

Liliya Mudruk, Schulleiterin

Im Örtchen Diwoschyn ist das der Dorflehrerin anscheinend gelungen. Mit sehr viel Liebe pflanzt der Grundschüler Alexej eine Birke. Er ist mit seiner Klasse hier. Alexej lebt in dem Dorf an der Grenze zu Weißrussland. Es ist eine Birke von insgesamt achtzig Birken. „Diese Birke pflanze ich, weil ich möchte, dass man immer an die achtzig Roma denkt, die während des Kriegs hier an dieser Stelle ermordet worden sind“, sagt Alexej. Wie schon in Kalyniwka und Iwanopil hat auch die hiesige Schule vor der Einweihung der Roma-Gedenkstätte das Thema im Unterricht behandelt. Alexej erinnert sich, dass die achtzig ermordeten Roma 1942 mit einem Treck vom belarussischen Nachbardorf nach Diwoschyn gezogen und dabei den Deutschen in die Hände gefallen seien. Am nächsten Tag hätten sie ihre eigenen Gräber ausheben müssen.

Ihor Shchupak nimmt solche Szenen zum Beweis, um den Geschichtsunterricht im Land zu loben: „Die Ukraine ist wohl das einzige Land der ehemaligen Sowjetunion, in dem der Holocaust Pflichtstoff im Unterricht ist“, behauptet er. Shchupak hat selbst zwanzig Jahre lang als Lehrer gearbeitet. Heute ist er Direktor des ukrainischen Instituts für Holocaust-Studien, Tkuma, und Mitherausgeber von Geschichtsbüchern für den Schulunterricht, die nach seiner Aussage Hunderttausende ukrainische Schüler nutzten. Diese erfahren laut Shchupak in zwei Fächern vom Holocaust: im Fach „Geschichte der Ukraine“ und im Fach „Geschichte der Welt“. Zusätzlich werde er auch in Heimatkunde gelehrt. Besonders intensiv würden die 33.000 ermordeten Juden in Babyn Jar behandelt.

Dass Antisemitismus und Antiziganismus damals wie heute zum Teil stark in der ukrainischen Gesellschaft verbreitet sind, wird im Unterricht aber in der Regel nicht behandelt. Es gibt zwar ukrainische NGOs, die Geschichtslehrer sensibilisieren – von staatlicher Seite wird die Auseinandersetzung mit der eigenen Mitschuld an den Naziverbrechen jedoch nicht sonderlich gefördert.

Diese Erfahrung hat auch die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas gemacht. Auf den Gedenktafeln für jüdische Opfer wollte sie derer gedenken, die „von den deutschen Besatzern und ihnen unterstellten lokalen Dienststellen“ ermordet worden sind. Die für Gedenkorte zuständige Kommission setzte durch, dass das Wörtchen „lokalen“ gestrichen wurde.

Er wisse sehr wohl, so Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung, von antiziganistischen Stimmungen in der heutigen Ukraine. Doch an den Orten, an denen seine Stiftung Denkmäler für die ermordeten Roma eingeweiht habe, sei ihm keine Roma-feindliche Haltung begegnet. Neumärker ist begeistert, wie sehr sich Jung und Alt an den Einweihungsfeierlichkeiten beteiligt hätten. Das mache ihm sehr viel Hoffnung, so Neumärker zur taz. Und weil dieses Interesse so groß ist, hofft Neumärker, dass sich die Bevölkerung auch in Zukunft um den Fortbestand der Denkmäler kümmern wird.

Die Reise fand im Rahmen des Projektes „Erinnerung bewahren“ der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas statt. Dieses Projekt finanzierte auch die Reisekosten von Kiew zu den Gedenkorten

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