Berlin #besetzen: Ansage mit Datum

Es ist eine neue Protestform gegen den Wohnungsnotstand in der Hauptstadt: Das Bündnis #besetzen ruft am 28. September zu Hausbesetzungen auf.

Hausbesetzerin sitzt auf einem Fensterbrett

Hausbesetzen in Berlin: Offensiver denn je Foto: Christian Mang

Statt konspirativ zu planen, still vorzubereiten und dann überraschend zu besetzen, kündigen die Berliner Aktivisten von #besetzen sogar den Tag an, an dem sie besetzen wollen. Sind die jetzt komplett bescheuert?

Das haben manche vielleicht im ersten Moment gedacht, als die Aktivisten am Mittwoch den 28. September als nächsten Tag der Hausbesetzung bekannt gaben. Schließlich gibt es gute Gründe dafür, bei Besetzungen, so gut es geht, im Verborgenen zu agieren.

Auf diesen ersten Gedanken könnte dann aber jener folgen: Die Ansage mit Datum ist eine strategische Entscheidung, die durchaus den sich zuspitzenden Zuständen auf dem Berliner Mietmarkt und der damit zusammenhängenden Stimmung in der Stadt entspricht.

Denn während sich die Landespolitik etwas schwerfällig und mit viel Zeit aufbäumt, verbreitet sich unter der Bevölkerung eine zunehmend systemkritische Interpretation des Mietenwahnsinns. Mit der Popularisierung der radikalen Kritik nimmt auch die Bereitschaft ab, bestimmte Zustände – etwa spekulativen Leerstand – weiter zu dulden. Die Aktivisten von #besetzen können diesen Stimmungswandel als Chance verstehen.

Als das Bündnis im vergangenen Mai begann, Häuser zu besetzen, und dann den „Herbst der Besetzungen“ proklamierte, war das auch eine Reaktion auf die Stimmung in der Stadt. Zwar wurde stets geräumt. Die Aktionsform Besetzung ist aber als Mittel des Widerstands gegen die vorherrschende Marktlogik wieder im Gespräch – statt nur Teil einer nostalgischen Erzählung der Berliner Stadtgeschichte, zu der sie bis dahin geworden war. Die Besetzungen haben sozusagen genau zum richtigen Zeitpunkt den Diskurs, die Köpfe besetzt. Ein Beispiel einer genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgten diskursiven Intervention – auch dank Kampagnen wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass in Berlin einmal ernsthaft über Vergesellschaftungen diskutiert werden würde?

Aber die Verteidiger des ganz offensichtlich dysfunktionalen und unsozialen Verteilungsmechanismus von Wohnraum versuchen sich zu wehren – laut #besetzen laufen derzeit 130 Strafverfahren gegen Aktivisten. Wie lange aber werden Politik und Behörden angesichts des beschriebenen Stimmungswandels Besetzern mit Repression begegnen können, bis sie selbst Legitimität in der Bevölkerung verlieren? Und ganz praktisch gefragt: Was macht die Polizei, wenn Ende September nicht mehr nur der Kreis der #besetzen-Aktivisten Häuser besetzt, sondern viele andere Berlinerinnen und Berliner mitmachen? Einfach draufhauen? Das wäre dann tatsächlich ganz schön bescheuert.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.