WG in Berlin zwangsgeräumt: Räumung im roten Wedding
Eine WG wird nach vier Jahren Streit zwangsgeräumt. Unterstützer organisieren in der Nacht eine Blockade, während sich Nachbarn gestört fühlen.
Es ist kurz vor 23 Uhr. Bevor das Plenum starten kann, muss noch die Waschmaschine aus der Wohnung getragen werden. Die Wohnung haben sie in den letzten Tagen leer geräumt, der lange Flur und die von ihm abgehenden Zimmer sind kahl, das Mintgrün an der Wand ist verblasst. Alles, was die Gerichtsvollzieherin am nächsten Tag vorfindet, wird kostenpflichtig entsorgt. Während im Innenhof die Lichter der Nachbarwohnungen ausgehen, setzen sich die mehr als 20 Anwesenden zusammen; es sind mehr Frauen als Männer, die meisten unter 30, einige aber auch doppelt so alt. In ihrer Mitte liegen Chipstüten und Schokolade.
Flo, ein junger Mann mit lockigen Haaren, eröffnet die Runde. Er ist einer der Hauptmieter, der einzige, der die Energie aufbringen kann, sich in die letzte Schlacht zu stürzen. Unterstützung erhält er von Calotta, die zuletzt einige Monate in der Wohnung lebte. Sie wollte den Kampf um die Wohnung unterstützen, hatte sie vorher gesagt und dabei unschuldig gelächelt.
Der Plan: Vor der Eingangstür zur Dubliner Straße ist ab 6 Uhr eine Kundgebung angemeldet; hier wird die Polizei nicht reingehen, ist man sich sicher. Ums Eck in der Glasgower Straße gibt es aber noch eine Haustür und ein Tor, die ebenfalls beide auf ihre Seite des Innenhofs führen. Weil es sein kann, dass die Polizei die Straße bereits in der Nacht absperrt, sind sie hier. Am frühen Morgen wollen sie die beiden Zugänge blockieren.
Eine Debatte, in der alle sehr behutsam miteinander umgehen, entzündet sich daran, ob die Waschmaschine direkt hinter dem Tor stehen bleiben kann. „Materialblockaden waren nicht ausgemacht“, heißt es. Später wird sie weggeräumt. Rabiat will sich hier niemand zur Wehr setzen. Eine Blockade des Treppenhauses wollen sie nicht – aus Angst vor Polizeigewalt. Glauben sie an ihren Erfolg? Ein Aktivist der Stadtteilgruppe „Hände weg vom Wedding“ ist skeptisch: „Am Ende werden wir geräumt.“ Niemand widerspricht.
Zermürbende Auseinandersetzung
Vier Jahre liegt die erste Kündigung für die Studi-WG zurück. Damals hieß es, die Mietminderung wegen eines Wasserschadens sei dem Abtrocknungsgrad nicht angepasst worden. Es folgten Klagen auf Klagen, Prozesse und immer wieder Proteste. Die Briefkastenfirma, der das Haus gehört, und die ausführende Hausverwaltung verbeißen sich in dem Ziel, ihre renitenten Mieter loszuwerden. Und die politisieren den Konflikt, sorgen für Öffentlichkeit.
Schlussendlich wird ein Hauptmieterwechsel, der der WG zusteht, zum Verhängnis. Ein Weddinger Amtsrichter folgt der Argumentation der Eigentümer, dass es sich nicht um eine WG handle, sondern um einen „Personenzusammenhang“ ohne entsprechendes Recht. Eine „fortgesetzte Rechtsbeugung“ nennt das ein grauhaariger Aktivist vom Bündnis „Zwangsräumung verhindern“, das den Konflikt über Jahre begleitete. Er könnte der Großvater der Runde sein, aber milde ist er nicht: „Ich bin hier, weil ich wütend bin.“
Nach anderthalb Stunden ist das Plenum vorbei. Während noch ein paar Sachen aus der Wohnung getragen werden, öffnet eine Nachbarin ihre Wohnungstür: „Wenn ihr nicht ruhig seid, ruf ich die Polizei. Dann seid ihr schon viel früher raus.“ Kurz darauf haben sich alle auf die vier Zimmer der Wohnung aufgeteilt und in ihre Schlafsäcke gehüllt.
Kurz vor 5 Uhr steht ein Freund der WG auf dem Balkon, an dem ein „Verdrängt im Wedding“-Transpi hängt, und schaut auf die leere Straße: „Ein unschuldiger Tag. Es ist alles nur ein Traum.“ Wenige Minuten später sind alle aus ihren Träumen gerissen. Während eine Handvoll Aktivisten flüsternd im Hof steht, meldet sich ein Nachbar lautstark zu Wort, in der Hand hält er einen Schlagstock: „Verpisst euch. Ich hab die Schnauze voll von euch scheiß Zecken“, brüllt er. Kurz darauf pöbeln zwei Frauen quer über den Hof. Zu laut sei es die ganze Nacht gewesen. „Im Gegensatz zu euch muss ich arbeiten.“ Die Aktivisten sind perplex. Zurück will keiner keifen.
Der rote Wedding hieß es einmal. Heute gibt es die Solidarität nicht mehr geschenkt.
Die Blockade steht
5.29 Uhr: Die Blockierer haben sich an den drei Zugängen verteilt. Vor dem Tor stehen sie hinter einem großen Transparent, daneben vor der Tür sitzen sie hinter dem Schild: „Wir kämpfen auch für Euer Recht auf menschenwürdiges Leben und Arbeiten.“ Statt feindseliger Nachbarn stehen ihnen nun die ersten Polizisten gegenüber. Etwa zehn Mannschaftswagen sind an dem Einsatz beteiligt.
Immer mehr Unterstützer trudeln ein. Pünktlich 6 Uhr beginnt die Kundgebung mit einer Rede, die auch die letzten Nachbarn aus den Federn reißen wird: „Diese Zwangsräumung geht uns alle an. Morgen schon könnt ihr die Nächsten sein.“
Mehr als 100 Menschen sind nun um das Haus und in den verschiedenen Blockaden verteilt. Viel Solidarität für eine Zwangsräumung. Die allermeisten – zwischen 10 und 20 sollen es am Tag in Berlin sein – gehen still und leise über die Bühne. Zu den beiden Blockaden der nächtlichen Aktivisten darf niemand mehr hinzustoßen. Immer wieder schallen Sprechchöre um den Block, ein Demonstrant singt „Bella Ciao“. Flo läuft aufgeregt durch die Reihen. Calotta steht vor der wenig umkämpften Haupteingangstür, lächelt und verteilt Tee an die Umstehenden. Eine Aktivistin hat es sich in einem Sessel bequem gemacht.
Tobias Schulze, Abgeordneter der Linken, der im Wedding seinen Wahlkreis hat, beobachtet die Szenerie. Der Bezirk leide inzwischen unter einem „enormen Aufwertungsdruck“; nirgendwo im Land gäbe es mehr Immobilienverkäufe als hier, und „die Käufer setzen nur noch darauf, die Leute schnell rauszukriegen“. Immer mehr Betroffene würden in die Wohnungslosigkeit verdrängt: „Das ist keine Verdrängung, sondern eine Vernichtung“, so Schulze.
Hinten rum zum Ziel
Während um 7 Uhr alle auf die Gerichtsvollzieherin und eine beginnende Räumung warten, sind Polizisten schon in den Hof vorgedrungen. Sie haben einen Eingang eine Hausnummer weiter genutzt und den Zaun überwunden, der den Hof teilt. Ins Haus kommen sie, in dem sie die Tür auframmen und dabei auch die Scheibe zerbrechen. Flo, der auf der anderen Seite stand, fliegen die Glassplitter um die Ohren. Kurz darauf kann er von der Straße aus zusehen, wie oben die Fenster der Wohnung geschlossen werden.
Es ist der Moment, in dem ihr jahrelanger Kampf verloren ist. Bei jeder Gerichtsverhandlung hat Flo einen handschriftlich verfassten Brief verlesen, er hat sich und andere organisiert, mehr Zeit und Geld aufgewendet, als es gesund ist. Bei alldem wirkt er zurückhaltend, stets freundlich. Nun sagt er nur: „Mir geht's scheiße.“ Als einziger der vier Bewohner hat er eine neue Wohnung, die anderen müssen bei Bekannten unterkommen, einer sogar nach Brandenburg ziehen.
Während sich die Blockaden schon auflösen, schreit vom Nachbarbalkon der geräumten Wohnung eine Frau herunter und fordert Ruhe. Sie möchte mit ihrem Welpen spazieren gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“