„Selbst ihr Geburtsname Pauline Berlin war unbekannt“

Paula Thiede war die weltweit erste Vorsitzende einer geschlechtergemischten Gewerkschaft. Bisher war wenig über die Hilfsarbeiterin bekannt. Nun hat der Historiker Uwe Fuhrmann ein Buch über sie verfasst

Paula Thiede wurde 1870 nahe dem Halleschen Tor geboren. Mit 19 Jahren heiratete sie, mit 21 wurde sie Witwe. Sie schloss sich dem Verband der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpresse an. Im März 1919 starb Thiede in Berlin.

Uwe Fuhrmann, Jahrgang 1979, hat in Berlin und Granada Geschichte studiert. Neben Geschichtspolitik beschäftigt er sich mit dem Einfluss der Gewerkschaften auf die Gesellschaft.

Das Buch „Frau Berlin: Paula Thiede. Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden“, UVK, Berlin 2019, 227 Seiten,17 Euro. (taz)

Interview Peter Nowak

taz: Herr Fuhrmann, was macht Paula Thiede 100 Jahre nach ihrem Tod noch interessant?

Uwe Fuhrmann: Paula Thiede hat es als Hilfsarbeiterin, als zeitweise verarmte und lange alleinerziehende Mutter mit proletarischem Hintergrund geschafft, über viele Jahre eine Gewerkschaftsfunktion auszuüben, und wurde die weltweit erste Vorsitzende einer gemischtgeschlechtlichen Gewerkschaft. Sie war eine der ganz wenigen hauptamtlichen Gewerkschafterinnen dieser Zeit. Das ist auch der Grund, warum das Paula-Thiede-Ufer nach ihr benannt wurde, an dem heute die Bundeszentrale der Gewerkschaft Verdi zu finden ist.

Was macht sie so besonders?

Die meisten anderen Frauen der ArbeiterInnenbewegung, die heute noch bekannt sind, sind in bildungsaffinen Milieus groß geworden, wie etwa Rosa Luxemburg. Paula Thiede begann ihre Arbeit an den Druckschnellpressen nach acht Jahren Schule, und der Tod ihres ersten Ehemannes stürzte sie mitsamt ihren Kindern in die Armut. Erst mit 35 Jahren, als ihre Gewerkschaft in der Lage war, sie für ihren Aufwand zu bezahlen, änderte sich ihre Lage dauerhaft.

Eine ungewöhnliche Geschichte – doch sicher gut erforscht?

Im Gegenteil! Die größte Herausforderung war die prekäre Quellenlage. Über einige biografische Notizen hinaus gab es keine Forschung zu Paula Thiede. Selbst ihr Geburtsname Pauline Berlin war unbekannt.

Warum ist über sie so wenig bekannt?

Noch zu Beginn der 1920er Jahre hatte der Verband der grafischen HilfsarbeiterInnen Paula Thiede mit einem Denkmal auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde geehrt. Das Vergessen setzte erst später ein. Die Stellung als Frau mit proletarischem Hintergrund ohne echte Berufsausbildung hat sicher auch in den Jahren nach 1945 eine Wiederentdeckung erschwert. Die zweite Frauenbewegung suchte zudem meist nach anderen Traditionslinien als Gewerkschaftsfrauen.

Ist Ihr Buch auch die Geschichte von Frauen in den Gewerkschaften um 1900?

Ja, es ist auch die Geschichte des Vereins der Arbeiterinnen der Buchdruck-Schnellpressen, in dem Thiede gewerkschaftspolitisch sozialisiert wurde. Es war eine viele Jahre aktive Frauen-Gewerkschaft, die ebenfalls weitgehend vergessen ist. Auch nach dem Zusammenschluss mit den männlichen Hilfsarbeitern waren diese Frauen sehr aktiv. Deswegen konnte Paula Thiede Vorsitzende werden und lange bleiben.

Welche Fragen über Paula Thiede bleiben weiter offen?

Weil es keine Selbstzeugnisse von ihr gibt, sind vor allem ihre ganz persönlichen Meinungen und ihre Gefühle kaum zu rekonstruieren, insbesondere ihre Eindrücke von der fehlenden Solidarität ihrer männlichen Kollegen. Zudem konnte ich das Schicksal ihrer Tochter Emma Wolter nicht ermitteln.