: Bereit zur autonomen Zusammenarbeit
Die Volksbühnenbesetzer*innen halten am Samstag einen Kongress im Mensch Meier ab, bei dem auch der designierte Intendant Réné Pollesch zu Gast sein wird – eine kleine Geschichte der letzten Jahre des Hauses aus Sicht der Volksbühnenbewegung
Von Anselm Lenz
Ich gebe es ja zu. Ich bin nicht ganz neutral, wenn ich nun einen genialen Vorbericht über den Volksbühnengipfel im Berliner Mensch Meier aufschreibe, der am Samstag stattfinden wird.
Große Verschwörung? Hauptstadtpresse? Ja, ich bin Teil eines links versifften Komplotts, eines von vielen. Indes stehen die Chancen wieder gut, dass mensch an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und in der kleinen Spielstätte Prater ein Ensemble- und Repertoiretheater wird aufsuchen können, das ein kleines bisschen überfordert. Es gibt seit der Besetzung des Theaters im September 2017 kein Zurück mehr. Nun soll der Sieg auf einem Gipfel gefeiert werden.
Als mein früherer Kollege, der junge Dramaturg Hendrik Sodenkamp, mir Anfang des Jahres 2017 sagte, dass es um die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz nicht gut stehe, war ich erst mal verdutzt. Die Volksbühne war (und ist) der sagenumwobene Theaterbetrieb, dem es gelungen war, ein technologisch längst überholtes Medium an die Spitze der Gegenwartskunst zu setzen.
In unseren Jahren in der Dramaturgieabteilung an einem bürgerlichen Hamburger Staatstheater war die Volksbühne jahrelang Sehnsuchtsort und Vorbild zugleich gewesen. Eine niemals abreißende junge Besucher*innenschar feierte dort die widerständige Art Christoph Schlingensiefs, Sophie Rois’ und Réné Polleschs, während bei uns zumeist die weißweinbeschorlte Kultursenatorin der AfD-Vorgänger „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ befriedigt werden musste.
So pilgerten wir, immer wenn wir konnten, an den Rosa-Luxemburg-Platz, der uns wie eine exterritoriale Zone erschien: relevantes Sprechtheater vor jungem Publikum, wer hatte das gesehen? Und das sollte nun weggemacht werden zugunsten eines netten Allerleis im längst schäbigen Buntlack des Neoliberalismus?
„Wir müssen jetzt was machen“, hatte Hendrik gesagt, „Funktionär*innen werden Kunst nie verstehen, das ist die Strafe ihres gut duchfinanzierten Lebens.“ Und so schlossen wir uns dem Gefolge einer Aktionsgruppe für den Stadtsoziologen Andrej Holm an, die der Berliner Philosoph Guillaume Paoli später „Volksbühnenbewegung“ nennen würde: Die Theaterexpertin Evelyn Annuß würde über 40.000 Unterschriften sammeln; eine vielgestaltige „Multitude“ für den Erhalt der Volksbühne kämpfen und sie im September 2017 schließlich in aller awareness, also recht höflich, besetzen; die Buchautorin und Galionsfigur der zentralen Organisationsplattform „Staub zu Glitzer“, Sarah Waterfeld, ein ausgereiftes Spielzeitheft für eine zweijährige Interimszeit vorlegen.
Der Hintergrund Der Streit um die Volksbühne entflammte am kurzzeitigen Intendanten Chris Dercon. Der damalige Kultursenator Michael Müller und Staatssekretär Tim Renner (beide SPD) hatten ihn 2014 zum Nachfolger von Frank Castorf erkoren. Kritiker*innen warfen Müller, Renner und Dercon vor, die Volksbühne zu einem „neoliberalen Eventtheater“ zu machen. Eingebrochene Besuchszahlen, mangelnde Finanzkompetenz und fehlende politische Unterstützung führten zu einer einvernehmlichen Kündigung Dercons im April 2018.
Die Besetzung Im September 2017 besetzte das Kollektiv „Staub zu Glitzer“ die Volksbühne für eine Woche, um gegen Dercon, aber auch gegen Gentrifizierung und neoliberale Kulturpolitik zu demonstrieren. Nach gescheiterten Verhandlungen mit Dercon und Kultursenator Klaus Lederer wurde das Theater polizeilich geräumt.
Der Gipfel Nach der Verkündung von René Pollesch als Volksbühnen-Intendant ab 2021 möchte „Staub zu Glitzer“ wieder Einfluss auf die Zukunft des Theaters nehmen. Diesmal mit einem alternativen Volksbühnen-Gipfel am Samstag, 6. Juli, im Mensch Meier, Storkower Straße 121. Getagt wird ab 16 Uhr. Info: staubzuglitzer.de
Das war geschehen: In einem Akt „kreativer Zerstörung“ (Joseph Schumpeter) hatte der frühere Berliner Senat zuvor dekretiert, dieses Theater einer Disruption zu unterziehen. Fest angestellte Mitarbeiter*innen und Stückeproduktion sollten zugunsten eines prekären Festivalbetriebes abgewickelt werden. Dafür hatten der frühere Berliner Kultusminister Michael Müller (SPD, heute Regierender Bürgermeister) und sein Mitarbeiter Tim Renner als Staatssekretär für Kultur einen Kurator aus London geholt, der tat, was er konnte. Unter Chris Dercon sollten die „Neuen Volksbühnen“ nur noch eine Art Holding für Event und Spektakel sein.
Dagegen hatte am 1. April 2017 ein Demonstrationszug mit Publikum und Mitarbeiter*innen von der Spielstätte Prater zum Rosa-Luxemburg-Platz angekündigt, dass mensch sich die Auflösung der Volksbühne als Theater nicht bieten lassen werde. Weniger ging es um eine umfassende Huldigung des „anarchistischen Königreichs“ (Carl Hegemann) des langjährigen Intendanten Frank Castorf als vielmehr um strukturelle, künstlerische und politische Implikationen. Die 129 Jahre Volksbühne waren, sind und werden sein: eine ganz andere Geschichte als die anderen großen Theater in Deutschland, die allesamt auf Aristokratie oder den bürgerlichen Staat zurückgehen.
Nach zweieinhalb Jahren des Kulturkampfes von links und der absehbaren Pleite Chris Dercons, der über 2,6 Millionen Euro Vorbereitungsbudget mitsamt dem regulären Etat der Spielzeit bereits Anfang 2018 erfolglos verbrannt hatte, stellte der neue Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei) nach einem Jahr, in dem er sich „die Entscheidung nicht leicht gemacht“ hatte, im Juni dieses Jahres einen neuen Intendanten vor: Réné Pollesch, der als Leiter der kleinen Spielstätte Prater und mit einem bahnbrechenden Diskurspoptheater in den Nullerjahren weltbekannt geworden war.
Mit ihm werden die Besetzer*innen ab 2021 einziehen, wie auch die neue Chefausstatterin Ida Müller, der zugetraut wird, den berühmten Bert Neumann zu ersetzen. Zudem die Wiener Regisseurin Florentina Holzinger, die mit ihren Extremperformances das calvinistische Arbeitsethos der Spätmoderne attackiert, und rückkehrende Schauspieler*innen wie Sophie Rois, Kathi Angerer und Martin Wuttke.
Er wolle „Machtkritik, kein Ideentheater, das tönt“, erklärte Pollesch. Auf Nachfrage der New York Times verkündete er bei seiner Vorstellung, er werde „mit seinen brothers and sisters in crime“ ein „autonomes Zusammenarbeiten“ einleiten. Die Figur des machthabenden Regisseurs solle dabei sukzessive zurückgehen. Er kündigte ausdrücklich seine Teilnahme am alternativen Volksbühnengipfel und die Zusammenarbeit mit den früheren Besetzer*innen an.
Dort werden nun am Samstag ab 16 Uhr die anarchistische Gewerkschaft FAU erwartet, die Hamburger Performer der Gruppe EGFKA, der genannte Gentrifizierungsexperte Andrej Holm, Heimo Lattner vom Tunix-Kongress des Jahres 1978, zudem Initiativen wie Bizim Kiez, Antifa-Gruppen, Musiker*innen wie Meral al mer und selbstverständlich ausgebildete und produzierende Künstler*innen wie die Regisseurin Lydia Dukier und mein früherer Kollege Hendrik, der seit den Tagen der Besetzung mit dem „Nie-Kollektiv“ Theater und Politik ohne staatlichen Auftrag noch Förderung produziert.
Ist das noch Kunst? Das weiß ich nicht, liebe Leser*in, und ich habe mir abgewöhnt, darüber nachzudenken. In Berlin funktioniert dit anders, wenn auch zunehmend gleicher, wie auch ich in den letzten zehn Jahren in dieser Stadt am eigenen Leib erfuhr.
In jedem Falle hat sich an der Volksbühne ein großer Sieg ergeben für die echten Linken jenseits der bürgerlichen Repräsentation. Es ist der erste substanzielle – also in der materiellen Wirklichkeit auffindbare – Sieg seit vielen, vielen Jahren, wenn nicht gar seit Jahrzehnten, und ich will sogar maßvoll behaupten: ein Wendepunkt gegen die neoliberale Epoche.
Ob meine Hoffnungen erfüllt werden, wird der Kongress nicht beweisen, aber einen möglicherweise interessanten Einblick in die kommenden Jahre geben.
Anselm Lenz
ist Journalist, Dramaturg und Buchherausgeber. Zuletzt erschien „Das Kapitalismustribunal – zur Revolution der ökonomischen Rechte“, Passagen Verlag Wien 2016
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen