Kaum Töchter zweier Welten

Filmische Umarmungen: Die Retrospektive der Berlinale nimmt die „Perspektiven von Filmemacherinnen“ ein

Werner Enke und Uschi Glas in „Zur Sache, Schätzchen“ (BRD 1968) von May Spils Foto: Deutsche Kinemathek/Schamoni Film & Medien

von Fabian Tietke

Montag, 7 Uhr. Beim ersten Weckerklingeln lüpft die junge Frau im Bett die Schlafbrille und verfrachtet den Wecker vom Nachttisch auf den Boden, dreht sich zur Seite und lauscht dem unrhythmischen Schnarchen des Mannes neben ihr im Bett. Der zweite Wecker steht auf dem Fensterbrett außer Reichweite. Den jungen Mann aus dem Bett zu kriegen gelingt erst mithilfe des Briefträgers, der routiniert die Boxhandschuhe aus der Tasche holt.

May Spils’ Kurzfilm „Manöver“ von 1967 gehört zu einer Reihe von Kurzfilmen, mit der die junge Münchner Filmemacherin ihren Humor bewies, bevor sie im Jahr darauf mit „Zur Sache, Schätzchen“ einen Kinohit landete. Spils’ Film ist der älteste in der diesjährigen Berlinale-Sektion Retrospektive unter dem Motto „Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“.

Die Retrospektive stellt die Perspektiven der Filmemacherinnen in ihrer Verschiedenheit aus: Dezidiert feministische Filme stehen neben solchen, die das eher nicht sind und wohl auch nicht sein wollen. Die Spielfilme sind zwar deutlich dominant, doch auch hinsichtlich der Formen findet sich Vielfalt, und vor allem in den Kurzfilmprogrammen stehen Animationsfilme und experimentellere Formate neben Dokumentarfilmen und Kurzspielfilmen. Eine große Stärke der Retrospektive ist es, dezidiert Filme von Regisseurinnen aus Ost- und Westdeutschland zu zeigen. Die geteilte und wiedervereinte Filmgeschichte des Deutschland der Nachkriegszeit erweist sich hier im Rückblick erneut als Schatz.

Ingrid Reschke, die erste DDR-Regisseurin eines abendfüllenden Spielfilms für Erwachsene, ist vertreten mit „Kennen Sie Urban?“. Auf der Basis von Beobachtungen der Schriftstellerin Gisela Karau, die von Ulrich Plenzdorf für den Film aufbereitet wurden, erzählt Reschke von der „Läuterung“ eines Jugendlichen nach dessen gescheiterter Flucht aus der DDR. Eine aufrechte Genossin als weibliche Hauptrolle wurde im Laufe der Produktion zur Nebenfigur.

Feministischer Arbeitskampf

Im Eröffnungsfilm, „Die Taube auf dem Dach“, von Iris Gusner blieb die weibliche Hauptrolle erhalten, dafür kostete die Borniertheit der DDR-Kulturpolitik den Film die Farben. Gusners Porträt der jungen Bauleiterin Linda Hinrichs, die sich für den Baubrigadier Hans Böwe ebenso erwärmen kann wie für den Baustudenten Daniel, wurde nach Fertigstellung verboten. Erhalten blieb nur eine stark beschädigte Arbeitskopie, die in Schwarz-Weiß umkopiert wurde.

Renate Kretschmar und Annette Sojc in „Zärtlichkeiten“ (BRD 1985) von Maria Lang Foto: Deutsche Kinemathek/DFFB

Die Dokumentarfilmregisseurin Helke Misselwitz ist mit zwei Filmen vertreten: dem halblangen Porträt einer Gruppe von Kohlenträgern in Prenzlauer Berg und ihrer Chefin in „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“ (1990) und „Aktfotografie – z. B. Gundula Schulze“ (1983), in dem Misselwitz eine Annäherung an die Fotografin Gundula Schulze mit einer Reflexion über die Darstellung von Frauen verbindet.

Dieses Interesse findet sich auch in den Filmen der westdeutschen Regisseurinnen: Helke Sander entwickelt 1978 solche Überlegungen, ebenfalls anhand einer Fotografin, in „Redupers“. Und Cristina Perincioli montiert mitten in ihren feministischen Arbeitskampffilm „Für Frauen – 1. Kapitel“ (1972) heteronormative Zeitschriftenbilder und eine kurze Spielhandlung über Rollenerwartungen an Mädchen hinein.

Ende der 1970er Jahre treten experimentellere Filme hinzu, etwa von Christine Noll Brinckmann (vertreten mit „Dress Rehearsal und Karola 2“, 1979) oder Ute Aurand und Ulrike Pfeiffer mit ihrem experimentellen Reisedokument „Umweg“ (1981). Auch Elfi ­Mikeschs Sehnsuchsdokument inmitten von Hochhausbeton, „Ich denke oft an Hawaii“,suchte nach anderen Erzählformen. Recha Jungmanns Film „Etwas tut weh“ (1980) ist eine sensible Spurensuche in den Trümmern deutscher Erinnerung: „ein Film, der die fünf Sinne sanft und beharrlich reizt, die dem Körper eingeschriebene Geschichte politisch zu begreifen“ (Karsten Witte).

Ein Film, bei dem im Rückblick all diese persönlichen Suchbewegungen nach einer filmischen Sprache, nach einer Repräsentation verdichtet zusammenfließen, ist Maria Langs „Zärtlichkeiten“ von 1985. Angela Schanelecs Abschlussfilm nach ihrem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin „Das Glück meiner Schwester“ von 1995 wiederum ist eine filmische Umarmung einer neurotischen Schwesternbeziehung mit nüchtern-prachtvollen Bildern von Reinhold Vorschneider.

Sosehr man im Potpourri der Retrospektive auch glücklich werden kann, es bleiben doch einige Fragen. Die wichtigste betrifft die Wahl der zeitlichen Zäsuren: Der Beginn in den 1960er Jahren ist eher unglücklich, suggeriert er doch, es habe vorher keine Regisseurinnen gegeben – was weder für Ost- noch für Westdeutschland zutrifft. Hanna Hirsch etwa, die in den 1950er Jahren Haushaltsfilme drehte, hätte die kritische Perspektive auf Hausarbeit von Margaret Raspé aus den 1970er Jahren hervorragend ergänzt. Marion Kellers Defa-Dokumentarfilm „Kindergärten“ von 1951 hätte sich zu den Kinderladenfilmen Helke Sanders ähnlich gut gefügt.

Warum so weiß?

Szene aus „Female Misbehavior“ (D 1992) von Monika Treut Foto: Edition Salzgeber/Hyena Films

Eine noch größere Schwachstelle ist, dass die weibliche Filmgeschichte in der Retrospektive ziemlich weiß ausfällt. Einzig „Ein Fest für Beyhan“ von Ayşe Polat und Serap Berrakkarasus „Töchter zweier Welten“ markieren, dass es auch nichtweiße Regisseurinnen in Deutschland gibt – keine Spur von Mehrangis Montazami-Dabui, Sema Poyraz, Hatice Ayten, Aysun Bademsoy, Seyhan Derin, Sabri Özaydin.

Gleich zwei Publikationen flankieren die Retrospektive: der offizielle Katalog, herausgegeben von Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother, sowie ein neuer Band der Schriftenreihe der Defa-Stiftung über die Regisseurinnen der Defa. Vor allem Letzterer ist ein Meilenstein, und man kann sich nur wundern, warum solch ein Buch nicht schon längst erschienen ist. Die Herausgebenden Cornelia Klauß von der Akademie der Künste und Ralf Schenk von der Defa-Stiftung sowie die Autor*innen des Bandes haben Pionierarbeit geleistet. Der Katalog überzeugt vor allem durch die Einbeziehung der Perspektive von Filmemacherinnen: Maren Ade und Tatjana Turanskyj (deren Erstling „Hangover“ ein hervorragender Abschlussfilm für die Reihe gewesen wäre) befassen sich mit je einem Film der Retrospektive.

Mit 28 Lang- und 21 Kurzfilmen bietet die diesjährige Retrospektive einen breiten Einblick in das Filmschaffen von Regisseurinnen in Deutschland. Viele Filme der Auswahl haben trotz ihrer Bedeutung in der deutschen Filmgeschichte noch immer nicht die Bekanntheit, die sie verdienen. Da diese im Rahmen der Retro­spektive auch deshalb zu sehen sind, weil unter anderem die Deutsche Kinemathek in den letzten Jahren von vielen Filmen digitale Kopien erstellt hat, ist auf ein langes Nachleben zu hoffen. Möge die Re­tro­spektive dazu beitragen, dass zahlreiche Regisseurinnen der Filmgeschichte neu entdeckt werden!

Cornelia Klauß, Ralf Schenk (Hg.): „Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme“. Bertz und Fischer, Berlin 2019, 416 Seiten, 59 Fotos, 2 DVDs mit 18 Filmen, 29 Euro

Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother (Hg.): „Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“. Bertz und Fischer, Berlin 2019, 216 Seiten, 163 Fotos, 25 Euro