Inklusives Bandprojekt Station 17: Knight Rider auf Testosteron
Seit 30 Jahren spielen bei Station 17 Musiker*innen mit und ohne Handicap. Eine ganz normale Band: Auf der Bühne geht’s um die Musik, im Tourbus geht’s viel um Sex.
Marc zum Beispiel, der bebrillte Saxofonist, ist noch nicht da, möglicherweise hat er die ganze Nacht lang „Knight Rider“ geschaut. Immerhin schickt er von seinem Nokia-Handy Nachrichten, die zwar nur aus Leerzeichen bestehen – aber zumindest ist er wach und vielleicht sogar unterwegs. Philip, gutaussehender Typ mit Down-Syndrom und Vorliebe für Rumkugeln, blickt mürrisch auf seine Uhr, während er an einem Kaffee nippt.
Von Beginn an war Station 17 weder Musiktherapie noch Freakshow, wollte keinen Behinderten-Bonus, sondern einfach Musik machen. Kai Boysen, Punkmusiker und Heilerzieher, gründete die Band vor 30 Jahren in einer Wohngruppe der Evangelischen Stiftung Alsterdorf – und sprengte damit den bis dahin herrschenden kunstpädagogischen Rahmen.
Denn Boysen und Station 17 arbeiteten auch mit musikalischen Größen wie den Krautrockern Can, DJ Koze oder Einstürzende-Neubauten-Mitglied FM Einheit. Wenn man ihn damals nach der Beziehung zur Hamburger Schule fragte, antwortete er genervt: „Wir sind die Hamburger Sonderschule.“
Mittlerweile ist Boysen kein aktives Mitglied mehr. Ohnehin haben sich die Besetzungen in den vergangenen drei Jahrzehnten immer wieder geändert – und mit ihnen die musikalischen Ausrichtungen: Punk, Noise, Experimental, Indie, Pop oder Krautrock. „Das Beständige an dieser Band ist ihr Wandel“, konstatiert der Infotext zur Band beim Label 17records.
Erektionen und Döner
Die Songs von Station 17 handeln von Meerschweinchen, Döner, Regenbogen oder davon, dass Hähne keine Eier haben. Und von Sex: Das aktuelle Album enthält einen Monolog der 1987 verstorbenen Krautrock-Ikone Conny Plank, in dem von Erektionen die Rede ist. Dies zeigt auch eine Entwicklung an.
Früher lebten Menschen mit Behinderung in Heimen außerhalb der Stadt und bekamen Triebhemmer, wenn sie ihre Sexualität nicht verhehlten. Mittlerweile ist die Inklusion fortgeschritten, man lebt zentral und selbstständig, mit Betreuung nach Bedarf. Und es gibt Sexualberatungen und Sexualassistenzen. Normalität ist vielfältiger geworden, Sonderschulen gibt es nicht mehr, und die Aktion Sorgenkind heißt Aktion Mensch. Auf dem vorletzten Album fordern Station 17 zusammen mit Strizzi Streuner von der Elektroband Frittenbude lauthals: „Alles für Alle!“
Als auch Marc endlich am Start ist, dreht Nils den Zündschlüssel, und der Tourbus rollt vom Hof. So verschieden wie die Lieder sind die Bandmitglieder. Aktuell besteht die Besatzung komplett aus Männern, eine reine Boyband also.
Gitarrist Nils hasst den Song „Zombie“ von den Cranberries und träumt von einem Wochenende auf einem Sofa voller Chips. Hinter ihm sitzt Sebastian, genannt Sebi: blind, begnadeter Keyboarder und Besitzer eines orangenen Judo-Gürtels.
Der coole und wortkarge Sänger Philip hasst Nacktschnecken und Bohnensalat. Marc will immer jede und jeden sofort heiraten, zumindest scheint „Heiraten?“ seine gewohnte Begrüßungsformel zu sein. Alternativ fragt er auch gern: „Sex machen?“ Er hält sich für David Hasselhoff, sieht nach Aussagen von Band-Kollegen aber eher aus wie Klößchen von TKKG, und kann beim Verladen der Instrumente meistens nicht helfen, weil er stets ein belegtes Brötchen in der Hand hält.
Im Autoradio laufen Verkehrsnachrichten. Jemand sinniert, ob der Club zum Konzert heute Abend wohl bumsvoll sein werde. Sebi wacht auf und sagt bumsfidel, er brauche eine Pullerpause. Nils lenkt die nächste Autobahnraststätte an, der Parkplatz ist voll, aber direkt vor den Toiletten ist eine große freie Fläche mit einem aufgepinselten Rollstuhl. „Geil, wir sind ja behindert!“, ruft Nils und parkt den Bus.
Überzuckert im Backstage-Bereich
Als der Tourbus am Nachmittag den Zielort erreicht, stürzt Marc direkt zu den arrangierten Servierplatten mit Brötchen. Dass alle vegan belegt sind, macht ihm nichts; ebenso wenig, dass alle anderen Bandmitglieder die Instrumente ausladen. Marc, Liebhaber alles Fleischlichen, kaut ein Brötchen mit Mortadella aus Sojaprotein und schaut zu.
Nach dem Soundcheck hält sich die Band im Backstage-Bereich auf. Dort stehen ein ramponierter Tischkicker und eine verstimmte Heimorgel, durchgesessene Sofas und zufrieden brummende Getränkekühlschränke. Marc nimmt sich die letzte Literflasche Fanta, trinkt sie auf ex und rülpst. Überzuckert ruft er: „Ich bin Knight Rider“, und bumst blödelnd den Türrahmen an. Philip grölt: „Unmöglich!“
Später versammelt sich im Saal ein bunt gemischtes Publikum: Hipster mit und ohne Behinderung. Über der Tür steht: „The only good System is a Soundsystem“. Marc springt auf die Bühne, in einer Lederjacke, die doch sehr an David Hasselhoff erinnert. Er greift zum Mikro, ruft: „Seid ihr alle da?“ und „Ich liebe dich!“ Dann stimmt er „Abn luking foa Friedem“ an, wird von den Instrumenten übertönt. Und los geht's. Aber richtig. Nils schüttelt sanft seinen Kopf, während er liebevoll auf seine Gitarre blickt und aussieht, als er würde er diesen Moment genauso mögen wie ein Wochenende auf einem Sofa voller Chips.
„Zugabe!“, ruft jemand im Publikum nach dem ersten Song, und jemand anderes fordert seine Betreuerin auf: „Mach dich locker, schwing dein Ding!“ Philip schwenkt die Rockstar-Faust. Wenn sein Einsatz nicht gefragt ist, gähnt er, schaut auf die Uhr, winkt im Publikum einer Frau zu, die ihn anflirtet, zeigt der Rampensau Marc erst den Vogel und dann den Stinkefinger, da dieser seiner Meinung nach die Show übertreibt.
Frage ans Publikum: „Heiraten?“
Aber Marc geht voll in seinen Starallüren auf und bemerkt Philip nicht. Marc fragt das Publikum: „Heiraten?“ und fordert es zu ekstatischem Applaus auf: „Klatschen! Lauter! Ja!“ Die Menschen lachen, klatschen, tanzen, und auf irgendwessen Shirt steht: „Pornostar“. Die Musik ist außergewöhnlich, bizarr, gemütlich und ungemütlich zugleich, ungezwungen originell, verschroben, tanzbar, irritierend, euphorisierend. Die Boys haben es echt drauf.
Dann ist das Konzert vorbei, das Publikum ist glücklich und die Band will Applaus, Essen und Drinks. Bassist Hauke verkauft noch Fanartikel. „Geld ist teuer!“, sagt jemand. Und jemand anderes fragt: „Finde ich dieses Porno-Lied auch im Internet?“ und meint den Song, in dem Conny Plank von Erektionen spricht. „Nein, das gibt es nur als Bonus-Material auf unserer LP“, erklärt Hauke.
Philip und Sebi stehen nebeneinander am Pissoir, Philip liest einen Klopspruch von der Wand ab: „Raus mit dem Rüssel, rein in die Schüssel.“ Sebi lacht sich schlapp. Backstage entledigt Marc sich seiner Lederjacke und versucht – David Hasselhoff in seiner unvorteilhaften Phase nicht unähnlich – schwerfällig vom Sofa hochzukommen. Er will sich dem Schlagzeuger Alex auf den Schoß setzen. Alex lenkt Marc auf die Lehne seines Sessels, Marc greift ihm an die Hose, fragt: „Regenbogen machen?“ und stößt beim Kichern eine Flasche um. Alex klagt: „Marc will immer was.“
Auf Tour ist das spaßig-sexuelle Interesse aneinander durchaus gängig. Zu Hause haben fast alle Bandmitglieder eine feste Freundin. Die Mitglieder mit Behinderung sind keine asexuellen Wesen, sie sind Musiker in einer Band, die Vorreiter ist im inklusiven künstlerischen Arbeiten. Und sie sind eben Männer, haben Penisse, finden Sex interessant und schauen sich Pornos an.
Seit 1989 gibt es Station 17, seit dem Mauerfall, zu dem David Hasselhoff „Looking for Freedom“ sang. 30 Jahre, das sind in Deutschland: Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel. Vor 30 Jahren gab es noch gelbe Telefonzellen und kaum jemand hatte ein Handy. Dann kam das Privatfernsehen und das Internet, die Videotheken starben und Take That trennte sich. Station 17 lebt.
Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen haben wir aus diesem Text zwei Szenen entfernt. Die Redaktion
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku