Neues Buch „Identitätspolitiken“: Solidarität ist niemals fertig
Soziale Kämpfe sind Kämpfe um Anerkennung – und andersherum: Dieses Buch tritt der Frontenbildung in der Identitätspolitik differenziert entgegen.
Nach der Trump-Wahl und verstärkt nach dem Einzug der AfD in den Bundestag ging eine These viral: Verantwortlich für beide Ereignisse ist die linke Identitätspolitik, der es nur noch um die Anerkennung kultureller Differenzen geht und dabei „die wahren Probleme der Menschen“ – ergo die soziale Frage – sträflich vernachlässigt. Mit Pseudothemen wie genderneutralen Toiletten hätten Linksliberale die abgehängte Industriearbeiterschaft vergrätzt, so der Tenor.
In ihrem Buch „Identitätspolitiken“ treten die Wiener Autor*innen Lea Susemichel und Jens Kastner dieser, wie sie es nennen, „anti-identitätspolitischen Frontenbildung“ argumentativ entgegen. Abgesehen davon, dass es auch schwarze und queere Arbeiter gibt, ist das Lamento ahistorisch; als hätte es je die eine, unumstrittene linke Identitätspolitik gegeben. Tatsächlich gab es immer schon eine Vielzahl von identitätspolitischen Ansätzen. Deren geschichtliche und theoretische Grundlagen leuchten Susemichel und Kastner gut lesbar aus, das Anschauungsmaterial reicht vom Austromarxismus bis zu aktuellen Genderthemen.
Während derzeit, oft in demagogischer Absicht, kulturelle Differenz und universale Gerechtigkeit zu unvereinbaren Gegensätzen hochdramatisiert werden, zeigen Susemichel und Kastner, dass soziale Kämpfe immer zugleich identitätspolitische Kämpfe waren – und vice versa. Schon die klassische Arbeiter*innenbewegung war für sie ein identitätspolitisches Projekt, das durch kulturelle Praktiken, wie etwa – kein Witz – den Übergang vom „zerstörerischen Schnaps“ zum „geselligen Bier“, politischen Willen formte.
Genauso war jede linke Identitätspolitik, die für die Autor*innen den Namen verdient, ein Kampf ums Ganze. Exemplarisch zeigen sie diese „egalitäre, universelle Dimension“ an der „Black Lives Matter“-Bewegung auf: „Schwarze Leben sollen nicht etwa mehr zählen oder anders gezählt werden, sondern einfach so zählen wie alle anderen auch.“ Zugleich zeigt „Black Lives Matter“ das unentrinnbare Paradox jeder Identitätspolitik. Sie muss sich, um Handlungsfähigkeit zu ermöglichen, positiv auf eben die Fremdzuschreibung (als schwarz, schwul, weiblich etc.) beziehen, die Grundlage der eigenen Diskriminierung ist.
Jens Kastner, Lea Susemichel: „Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken“. Unrast Verlag, Münster 2018, 152 Seiten, 12,80 Euro
Um das abschätzige Sprechen über Identitätspolitik als ideologisch zu kontern, sind die innerhalb der jeweiligen Communities geführten Debatten erhellend. Schon im Feminismus oder in der antikolonialen Bewegung waren politische Aktivist*innen versucht, die innere Spannung zwischen Universalismus und kultureller Differenz einseitig aufzulösen: durch die kulturessenzialistische Einschließung ins Identitäre oder durch die Flucht in eine vulgärmarxistische Eigentlichkeit, die jede Unterdrückung qua kultureller oder sexueller Differenz zum Nebenwiderspruch herabgewürdigt hat.
Ineinander verwobene Diskriminierungsformen
Susemichel/Kastner machen deutlich, dass es keinen archimedischen Punkt der Unterdrückung gibt, auch wenn die Sehnsucht danach gerade jetzt groß sein mag. Viel zu sehr sind die unterschiedlichen Diskriminierungsformen ineinander verwoben, als dass es einen Generalschlüssel geben könnte. Was heute unter dem Konzept der Intersektionaliät diskutiert wird, heißt in diesem Sinne, dass sich etwa in einer schwarzen, lesbischen Frau mehrere Diskriminierungen überkreuzen. Aus dieser Komplexität gibt es keinen großen Sprung, man hat sich auf den „Mehrfrontenkampf“ einzulassen.
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Bei der Betrachtung aktueller Identitätspolitiken äußern die Autor*innen eine solidarische, aber unmissverständliche Kritik an der Inflation von kulturellen und sexuellen Kleinstdifferenzen sowie an den erbitterten Gegnern kultureller Aneignung. Sie erkennen darin eine selbstreferentielle „Individualisierung von Identität“, da oft persönliche Betroffenheit zum alleinigen Kriterium für legitimes Sprechen erklärt würde.
Damit werde die Möglichkeit geleugnet, sich von der prägenden Dominanzkultur zu distanzieren und sich mit anderen solidarisch zu zeigen. Zudem tendiere der Überschuss an Identitäten dazu, strukturelle Gewalt zu nivellieren und Diskriminierungserfahrungen leichtfertig gleichzusetzen. Eine „lookistische“ Abwertung qua Aussehen ist eben etwas anderes als die Konfrontation mit rassistischer Polizeigewalt.
Politische Aufklärung
Die unendlichen Abweichungen dann aber im Namen einer imaginären Gemeinsamkeit nicht zu artikulieren ist für die Autor*innen keine Option. „Es gibt diese Differenzen, und sie sind gewaltig“, schreiben sie lakonisch. Jede Identitätspolitik sollte diese grundlegende Differenz nach innen (es gibt nicht „die Frau“, „den Arbeiter“ etc.) und nach außen (andere berufen sich auch auf ihre Abweichung) anerkennen und als konstruktives Merkmal bejahen.
Solidarität – für Susemichel und Kastner das zentrale Ziel linker Politik – setze diese Differenz gerade voraus, deshalb sei sie nie fertig, sondern müsse immer wieder neu ausgehandelt werden. Mit wem ich eh schon „eins“ bin, mit dem brauche ich mich nicht zu solidarisieren.
Während Identitätspolitik von Leuten wie dem „Aufstehen“-Vordenker Bernd Stegemann als Elitenveranstaltung abgetan wird, betreiben Susemichel und Kastner politische Aufklärung, indem sie sich konkrete Kämpfe mit all ihren Widersprüchen genauer anschauen. Die Lage der Dinge lassen sie so sowohl komplizierter als auch hoffnungsvoller erscheinen.
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