piwik no script img

Demonstrationen in UngarnMit Pyro gegen Orbán

Die Demos gegen ein neues Arbeitsgesetz in Ungarn sind zu tiefergehendem Protest angewachsen: Sie greifen die autoritäre Regierung insgesamt an.

Freitags in Budapest Foto: reuters

Wien taz | „Scheiße mit Schnurrbart“, skandierten Tausende Demonstranten Freitagnacht vor dem Sándor-Palais in Budapest, dem Amtssitz des schnauzbärtigen Staatspräsidenten János Áder. Der hatte gerade das neue Arbeitsgesetz unterschrieben, das den Unternehmern die Möglichkeit gibt, Überstunden im Ausmaß von 400 statt bisher 250 Stunden jährlich einzufordern und sich mit der Bezahlung drei Jahre Zeit zu lassen. Die Gegner nennen es „Sklavengesetz“.

Schon seit Tagen protestiert eine bunte Mischung aus Arbeitern, Intellektuellen und Fußball-Ultras gegen dieses Gesetz. Ein Ende ist nicht abzusehen: Am Silvesterabend soll die Feier vor dem Parlament gleichzeitig eine Protestkundgebung werden. Und am 5. Januar wird wieder marschiert. Eine gerade gegründete Studentengewerkschaft sieht sogar schon den Moment für den Sturm auf die Bastille gekommen und will das Regime im Januar mittels Generalstreiks in die Knie zwingen.

Das neue Gesetz wird als Geschenk für die deutsche Autoindustrie gesehen. Da in Ungarn Facharbeitermangel herrscht, sollen die Menschen in den Fabriken eben mehr arbeiten. Seit Orbáns Antreten 2010 sind über 800.000 mehrheitlich junge Arbeitskräfte aus Ungarn abgewandert. Das Anwerben von Fachkräften im Ausland widerspricht der permanenten Anti-zuwanderungskampagne der Regierung. Für die Autofabriken, die ins Land geholt oder ausgebaut werden sollen, fehlt also das „Humankapital“.

Eine der treibenden Kräfte bei den Protesten ist die proeuropäische Momentum-Bewegung, die vergangenes Jahr Ungarns Olympia-Bewerbung für 2014 zu Fall brachte. Sie fällt durch den Einsatz von lilafarbener Pyrotechnik auf. Dass die Demonstrationen sich nicht mehr nur gegen das Arbeitszeitgesetz richten, sondern das autoritäre System Orbán insgesamt angreifen, kann man am neuen Logo erkennen, das in Budapest allgegenwärtig ist: O1g. Das steht für „Orbán ist ein Wixer“, wörtlich „ein Spermium“, und geht auf ein Interview des Oligarchen Lajos Simicska zurück. Der hatte nach seinem Bruch mit seinem Jugendfreund Orbán vor viereinhalb Jahren zu deftigen Worten gegriffen.

Das Logo wird meist als schwarzer Kreis (O) mit einem eingeschriebenen G und einer 1 in der Mitte gezeichnet. Mit Lasern projizieren es die Protestler etwa an die Fassaden des Parlaments. Manche Demonstrantinnen kleben es sich auf die nackten Brüste.

Die Proteste werden dabei frecher, die Slogans sind oft originell. Der Spruch „Bodenheizung für den Kossuth-Platz!“ wird in Sprachchören gesungen. Vor dem Parlament kann man sich bei den Kundgebungen leicht kalte Füße holen und der Winter ist noch lang.

Die Regierung weiß nicht, wie sie mit der Protestwelle umgehen soll

Regierungssprecher Zoltán Kovács zeigte gerade, dass die Regierung nicht weiß, wie sie mit der Protestwelle umgehen soll: Gegenüber den Medien versuchte er, den Protest als einen hilflosen Aufstandsversuch der Oppositionsparteien darzustellen. Politisch hätten sie versagt und seien dafür an den Urnen abgestraft worden. Jetzt bliebe ihnen nur die Straße. Außerdem steckten die Knechte von George Soros dahinter, so Kovács, die ganz wie der ungarischstämmige Milliardär Europa mit Flüchtlingen überfluten wollen. Damit meint er liberale Zirkel in den NGOs und Universitäten.

Die Oppositionsparteien rechts und links der regierenden Fidesz-Partei scheinen tatsächlich aus dem Siechbett erwacht, in das sie nach der Wahlschlappe am vergangenen 8. April gefallen waren. Sie marschieren vereint und stehen gemeinsam auf den Rednertribünen. Ihr Engagement wird offensichtlich auch von anderen Demonstranten ernst genommen, denn anders als früher wird das Schwenken von Parteifahnen in den Protestzügen toleriert. Auch die bisher gefügigen Gewerkschaften, die als Vorfeldorganisationen der Regierung gelten, haben ein Lebenszeichen von sich gegeben und sich zumindest teilweise rehabilitiert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • "werden dabei frecher" lässt sich auch anders ausdrücken. Ohne dabei zu sein, scheint mir eher kreative Intelligenz gegen autoritäres Gebaren zutreffender. Ausbeutung wie seit Jahrtausenden; klerikal ausgedrückt: Wasser predigen, Wein trinken.

  • Die

  • "die vergangenes Jahr Ungarns Olympia-Bewerbung für 2014 zu Fall brachte." Das sollte wahrscheinlich 2024 heißen.

  • In Ungarn rebelliert man also gegen ein Gesetz, das (mit Recht!) als modern-industrielle Versklavung via Überstunden empfunden wird. Gut so!



    Das verführt aber schon auch dazu sich mal die Situation in Deutschland näher zu betrachten:



    Der DGB wußte dazu im Juli 2017 zu vermelden: "1,8 Milliarden Überstunden machen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland - jedes Jahr. Umgerechnet entspricht das 45 Millionen 40-Stunden-Wochen. Das Problem: Die Mehrheit dieser Überstunden werden nicht bezahlt. Dadurch sind den Beschäftigten allein im letzten Jahr mehr als 20 Milliarden Euro Lohn und Gehalt entgangen."



    www.dgb.de/themen/...-8afd-525400e5a74a



    Und nicht nur der DGB:



    www.gehalt.de/news...tszeitmonitor-2017



    www.welt.de/wirtsc...-Ueberstunden.html



    www.zeit.de/wirtsc...kt-berufsforschung



    Die Deutschen leisten europaweit die meisten unbezahlten Überstunden - und glauben scheinbar es sei normal dies ohne mit der Wimper zu zucken so hinzunehmen.



    Sklavenmentalität ???



    Also, wenn Ihr mich fragt: Gelbe Weste, Rote Fahne und eine Tasse heißer Gulaszsuppe täte uns allen im neoconservativen Musterländle recht gut, gell.

  • 400 Überstunden pro Jahr sind bei fünf Arbeitstagen und fünf Wochen Urlaub im Jahr (wobei wahrscheinlich der Standard in Ungarn niedriger ist) 1,7 Stunden pro Arbeitstag mehr. Und der Lohn für diese Mehrarbeit soll bis zu drei Jahre zurückgehalten werden dürfen!?

    Na, kein Wunder, dass das die Leute auf die Straße bringt. Der Name Sklavengesetz ist nicht so abwegig. Auf jeden Fall ist es ein erzwungener Kredit für die Kapitalseite, abgepresst per Gesetz. Und wer weiß schon, ob die Firma für die man diese Überstunden leistet in drei Jahren noch existiert. Wahnsinn!

    Man kann nur hoffen, dass die Orbanisten hier mal den Bogen überspannt haben, und in ihrer selbstgefälligen Arroganz noch eine Weile daran festhalten. Dann könnte der Protest wirklich noch anwachsen und noch grundlegender gegen diese Regierung als Ganzes gehen. Und hoffentlich auch tatsächlich zu Fall bringen. Denn was Orban da seit Jahren betreibt ist traurig und gefährlich - für Ungarn, das ich vor Jahren als gastfreundliches Land mit vielen fortschrittlich denkenden Menschen kennengelernt habe - und auch für Europa.

    O1g!

  • Hatte mal in einer Firma angefangen,wo schon während des Vorstellungsgesprächs die grundsätzliche Bereitschaft zur 2-stündigen Mehrarbeit jeden Tag (ohne Vergütung, ohne Freizeitausgleich) als Bedingung gestellt wurde. Hatte mal in einem großen (ehemals staatlichen) Unternehmen gearbeitet, wo die Angestellten um 17.00 uhr nach unten stempeln gingen, um dann bis 20 , 21 Uhr oder gar länger zu bleiben.



    Und was sagt das Gesetz bei uns? So ca. 200 Std. pro Halbjahr?

  • Ob Orban oder Macron oder Merkel. Unterm Strich geht es immer gegen die Lohnarbeitenden. Und nicht nur in diesem Fall ist das deutsche Kapital wieder beteiligt. Es lebe die EU. Die Reichen werden reicher, die Armen immer ärmer.