Steinmeier-Rede zum 9. November: Versöhnen statt spalten
„Das Stiefkind unserer Demokratiegeschichte“: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier versucht den 9. November 1918 zu adoptieren.
„Der 9. November 1918 ist auf der Landkarte der deutschen Erinnerungsorte zwar verzeichnet, aber er hat nie den Platz gefunden, der ihm zusteht.“ Das ist ein Kernsatz in Frank-Walter Steinmeiers Rede zum 9. November im Bundestag, die der ambitionierte Versuch sein will, dies zu ändern.
„Die schwierigste und schmerzhafteste Frage“ laute, so Steinmeier, wie aus der vitalen Demokratie nach 1918 die NS-Diktatur wurde. „Wie konnte es sein, dass dieses selbe Volk innerhalb weniger Jahre in demokratischen Wahlen den Demokratiefeinden zur Mehrheit verhalf; seine europäischen Nachbarn mit Krieg und Vernichtung überzog; wegschaute, wenn nicht gar gaffte und jubelte, wenn daheim in der eigenen Straße jüdische Nachbarn, Homosexuelle, seelisch Kranke aus ihren Häusern gezerrt wurden“.
Diese Frage ist ein rhetorischer Höhepunkt der Rede – und ihr intellektueller Grenzpfahl. Denn Steinmeier versucht nicht Antworten zu probieren, die über das Bekannte – Versailler Vertrages, Wirtschaftskrise, Inflation – hinausgehen. War nicht der gravierende Fehler, dass die reaktionären Eliten, kaisertreue Richter und Generäle, in der Republik unbehelligt im Amt blieben? Steinmeier erwähnt das – aber nur als Detail.
Patriotismus mit leisen Tönen
Die SPD-Mitgliedschaft des Bundespräsidenten ruht zwar. Doch dass hier ein Sozialdemokrat redet, ist nicht nur zwischen den Zeilen hörbar. Gewürdigt werden „die Verdienste der gemäßigten Arbeiterbewegung“, die klug im Chaos Kompromisse mit dem gemäßigten Bürgertum schmiedete. Auch die Schattenseiten von Ebert und Scheidemann werden erwähnt, der Pakt mit den rechten Freikorps. „Viele wurden damals ermordet, unter ihnen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Auch der Opfer jener Tage wollen wir heute gedenken“, sagt Steinmeier. Der Saal applaudiert.
Es war vor 100 Jahren, als der Kaiser sich verdrückte, die Matrosen aufbegehrten, die Republik entstand. Spartakisten kämpften in Berlin, Sozialdemokraten fürchteten die Räte, und Frauen durften plötzlich wählen gehen. Die taz schaut auf die Errungenschaften der Revolution – und ihr Scheitern. Texte aus der Revolutions-taz bei taz.de und am 9. November in der Zeitung.
Der Plenarsaal des Bundestag ist am Freitagmorgen ordnungsgemäß gut gefüllt. Der Schauspieler Ulrich Matthes hat vor Steinmeiers Rede Scheidemanns Ausrufung der Republik verlesen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schickte ein paar kulturpessimistisch gefärbte Anmerkungen über die bekanntlich dünne „Firnis der Zivilisation“ voraus.
Steinmeiers Rede ist das Zentrum der Gedenkstunde. Und ein Plädoyer für einen selbstbewussten, historisch verwurzelten Patriotismus. Der „ist niemals laut und auftrumpfend – er ist ein Patriotismus mit leisen Tönen und mit gemischten Gefühlen.“ Das ist elegant formuliert. Die halbe AfD-Fraktion schaut entsprechend verdrießlich drein. Steinmeier gelingen ein paar funkelnde Sätze. Diese Rede ist sympathisch, die Urteile sind abgewogen, nichts ist falsch oder schrill.
Stehende Ovationen von Linksfraktion bis AfD
Das missliche Schattendasein der Novemberrevolution erklärt sich durch das böse Ende der Weimarer Republik, ihren Status als Vorgeschichte des NS-Staates. Steinmeier will diese Perspektive erweitern. „Historisch gescheitert ist nicht die Demokratie – historisch gescheitert“ sind Nationalsozialismus und Diktatur. Vom guten Ende gesehen sollen wir also, wenn nicht milder, so doch selbstbewusster auf vergangene Debakel schauen. „Es lebe unsere Demokratie“, sagt Steinmeier am Schluss – und von Linksfraktion bis AfD gibt es stehende Ovationen.
Steinmeier will Mut machen, er wirbt für republikanisches Selbstbewusstsein und will versöhnen statt spalten. Das Lob für die halb vergessenen HeldInnen der Demokratie, von Hermann Müller bis Marie Lüders, klingt entschlossen, sanft der Tadel der Fehler der Weimarer Republik. Liebknecht und Luxemburg werden angemessen betrauert. Der Name Gustav Noske, der Sozialdemokrat, der den Freikorps den Weg bahnte, fällt nicht.
Die Zielrichtung ist das gute Heute. Im Blick zurück sollen wir erkennen, dass die Demokratie sich nicht von selbst versteht und demokratisches Engagement Not tut. Diese geschichtspädagogische Ausrichtung wirkt indes wie eine Art intellektuelle Abfederung nach allen Seiten. Wie ein Puffer, der jene Zuspitzung und Prägnanz verschluckt, die bedeutende, spektakuläre Reden auszeichnet.
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