„Ein permanenter Unruhezustand“

Das Hamburger Landgericht verhandelt den Fall eines Altenpflegehelfers, der eine demente Bewohnerin misshandelt haben soll. Vor dem Urteil ist klar: Die Arbeit dort ist prekär

Abgestellt und ausgeliefert: Bewohner von Altenheimen können sich gegen Misshandlungen häufig nicht wehren Foto: imago/Inga Kjaer

Von Friederike Gräff

Diesmal ist es still auf dem Gerichtsflur. In der ersten Instanz drängelten sich noch die JournalistInnen im Prozess gegen den Altenpflegehelfer Jörg-Olaf G., dem die Misshandlung von Schutzbefohlenen vorgeworfen wurde. „Altenpfleger des Grauens“ hatten sie ihn genannt und den Emilienhof, wo er arbeitete, „Skandal-Altenheim“. Das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek hatte ihn 2017 zu sieben Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Dagegen hatte sowohl der Angeklagte Berufung eingelegt als auch die Staatsanwaltschaft, die 18 Monate ohne Bewährung gefordert hatte.

Jörg-Olaf G. ist 58 Jahre alt, ein massiger Mann, mal im T-Shirt, mal im Flanellhemd, dem immer mal wieder polternd die Wasserflasche zu Boden fällt. Er hat studiert und nebenbei in der Pflege gearbeitet, so gibt er zu Protokoll, dann ist er dort hängen geblieben, ohne ein Examen dafür abgelegt zu haben. „Ich liebe meinen Beruf“, sagt er.

An den Morgen des 12. April 2016 hat er keine Erinnerung, so sagt er. Aber er erinnert sich an die 84-jährige Frau T., die er misshandelt haben soll. Sie war dement, zudem an Schizophrenie erkrankt und bettlägerig. Sie habe sofort auf ihn reagiert, so erinnert sich G., und zwar „unwillig“. „Ich habe sie offensichtlich in Angst versetzt.“ Angstzustände seien Teil der Schizophrenie. Frau T. konnte nicht mehr sprechen, sie konnte sich auch nicht mehr zielgerichtet bewegen, aber sie konnte noch schreien, „nein“ und „aua“ rufen – und sie konnte kneifen. All das tat sie, wenn der Angeklagte sie versorgte, also umlagerte und ihre Inkontinenzeinlage wechselte. Die Richterin fragt ihn, wie er sich T.s Ablehnung erkläre: „Ich vermute, dass meine Physiognomie das ausgelöst hat“, sagt G.

Frau T.s Sohn sah sich nicht in der Lage, die Betreuung seiner Mutter zu organisieren, deswegen gibt es eine gesetzliche Betreuerin. Heidemarie L. ist die einzige Zeugin vor Gericht, die sich an eine Frau T. erinnert, die noch nicht komplett dement und bettlägerig war. Sie sei eine „niedliche ältere Dame“ gewesen, die „plapperte und mit einem Teddybär, oder was sie erwischte, herumrannte“.

„Für mich war bei ihr nie deutlich, was Angst und was Schmerz war“, sagt Jörg-Olaf G. Er habe versucht, die Versorgung möglichst schnell hinter sich zu bringen, um es kurz für sich und kurz für Frau T. zu halten. Ob er sich mit Arbeitskollegen darüber ausgetauscht habe, fragt die Richterin. „Jeder hatte eine andere Methode“, sagt G. Ob er mit seinem Arbeitgeber darüber gesprochen habe? „Nein.“

Hätte G.s Kollegin Sylke H. an jenem Morgen des 12. April nicht heimlich die Schreie von Frau T. aufgenommen, die sie mutmaßlich ausstieß, als Jörg-Olaf G. sie versorgte, wäre dies eine Nachtschicht wie jede andere geblieben. Doch Sylke H. war, so sagt sie vor Gericht, schon seit einiger Zeit aufgefallen, dass sich die Zahl der Hämatome bei den BewohnerInnen häuften, wenn G. Nachtdienst gehabt hatte. Außerdem seien die alten Menschen auffallend verängstigt gewesen. Die Zeitungen haben Sylke H. als Whistleblowerin gefeiert, zumal ihr hinterher vom Emilienhof gekündigt wurde. Das, so stellt sie vor Gericht klar, sei nicht ganz richtig. Gekündigt wurde ihr, weil sie sich wegen weiterer Missstände erneut an die Heimaufsicht gewandt habe. „Haben Sie sich dagegen gewehrt?“, fragt die Richterin. Das hat Sylke H. Sie hat eine Abfindung erhalten, inzwischen arbeitet sie in einem anderen Altenheim.

Die Mitarbeitenden in Pflegeheimen sind überfordert; müssen überfordert sein

Als G.s Anwalt umständliche Detailfragen stellt, wird Sylke H. ungeduldig. Die Richterin weist sie darauf hin, dass es darum gehe, Sachverhalte aufzuklären, dass es auch für den Angeklagten um etwas gehe. Der arbeitet inzwischen wieder in der Pflege, die Betreuung von Dementen der Pflegestufe 2 ist ihm untersagt. Die Sachverhalte sind kleinteilig. Was ist wichtig? Dass Sylke H., so sagt es einer der früheren Heimleiter, ständig mit Beschwerden über Kolleginnen und Kollegen kam. Er nennt es „denunzieren“. Sylke H. sagt, dass nach dem Weggang des Angeklagten, dem fristlos gekündigt wurde, die Zahl der Hämatome bei den BewohnerInnen wieder sank. Sie sagt, dass die Pflege schlecht blieb, dass die BewohnerInnen in ihrem Urin sitzen blieben, dass Frau T. zehn Tage lang nicht geduscht wurde. Dass keine Mundpflege stattfand, dass sie Wurststücke aus dem Mund von BewohnerInnen herausgepickt hat. Ob die Vorwürfe von Sylke H. Substanz gehabt hätten, fragt die Staatsanwältin. Die Dekubitus-Behandlung sei tatsächlich schlecht gewesen, sagt der frühere Heimleiter.

Bislang ist in diesem Prozess nicht darüber entschieden worden, welche Schuld Jörg-Olaf G. trifft. Aber in kleinen Nebensätzen scheint das auf, was die Öffentlichkeit ohnehin weiß und dann wieder vergisst: dass vieles in Alten- und Pflegeheimen schlecht läuft, weil die dort Arbeitenden überfordert sind, überfordert sein müssen. Man weiß, dass diejenigen, die dort leben, sich selbst kaum wehren können und darauf angewiesen sind, dass man ihnen wohl will. Oder dass kontrolliert wird, was in diesen Häusern passiert.

Die Betreuerin von Frau T. sagt, dass es nicht schlecht gelaufen sei bei der Kommunikation mit dem Emilienhof. Der Heimleiter, der nach fünf Monaten das Handtuch warf, spricht von einem „permanenten Unruhezustand“, von Mitarbeitenden, denen er nicht trauen konnte, und einer Unternehmensleitung, die ihm nicht half.