Thomas Ruttig über die Parlamentswahlen in Afghanistan: Gewolltes Chaos
Die afghanische Parlamentswahl am Wochenende ist der am schlechtesten organisierte Urnengang seit dem Ende des Taliban-Regimes 2001. An der Zeit, die zur Vorbereitung zur Verfügung stand, kann es allerdings nicht gelegen haben. Über acht Jahre – die fünfjährige Wahlperiode plus dreieinhalb Jahre Verspätung – standen für die geplanten Reformen des Wahlsystems und die Vorbereitung zur Verfügung. Auch an Ressourcen hat es nicht gemangelt. Aus der Tatsache, dass es trotzdem chaotisch ablief, sollte jedoch niemand schlussfolgern, die Afghanen seien eben „nicht reif“ für die Demokratie. Das wäre rassistischer Schwachsinn. Es lag schlicht daran, dass der politische Wille fehlte.
Niemand unter Afghanistans wirklichen Machthabern will ein fälschungssicheres System. Natürlich würde das keiner öffentlich zugeben. Aber an ihren Taten kann man sie erkennen. Die Erfahrung vergangener Wahlen war, dass nicht der- oder diejenige mit den meisten Stimmen gewann, sondern wer am besten gegnerische Stimmen eliminieren und eigene durch Fälschungen maximieren konnte. Ein Teil der Wahlreform war deshalb die Neubesetzung der Wahlkommission, die in der Vergangenheit diesen Betrug ermöglicht hatte. Bei den letzten Wahlen im Jahr 2010 strich sie 20 Prozent aller Stimmen wegen angeblicher Verstöße. Solche Größenordnungen entscheiden über Sieg oder Niederlage.
Es ist zudem falsch, die Schlangen vor den Wahllokalen nur als Zeichen der Widerstandskraft der Bevölkerung gegen die Taliban zu feiern. Die haarsträubend schlechte Organisation führte vielerorts zu den Wartezeiten. Afghanische Medien und Polizei hatten darüber hinaus am Wahlvormittag verschwiegen, dass es schon Opfer bei Anschlägen gegeben hatte, um die Wahlbeteiligung möglichst hoch zu halten.
Die schlechte Organisation wirft die Demokratisierung in Afghanistan zurück, statt sie zu fördern. Viele gingen trotz der Mängel und der Terrorgefahr wählen, um ein Zeichen zu setzen, dass sie wenigstens noch einen Restbestand an Demokratie retten wollten. Man kann sie dafür nur bewundern.
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