Der Hausbesuch: Im Stall nisten Schwalben

Seit über sechzig Jahren melkt Rosemarie Straub ihre Kühe. Früher waren es zwanzig, heute sind es noch vier.

Porträt Rosemarie Straub in ihrer Küche

„Wir konnten halt nie weg wegen der Küh’“. Die Milchbäuerin Rosemarie Straub in ihrer Küche Foto: Felie Zernack

Döggingen im Schwarzwald. An einer S-Kurve, gegenüber der „Gaststätte im Kuhstall“, liegt das Haus von Rosemarie Straub. Sie ist die letzte Milchbäuerin im Ort.

Draußen: Geranien stehen in Töpfen, an der Wand hängt ein Süßigkeitenautomat, gleich nebenan ist der letzte Bäcker im Dorf. Hundegebell mischt sich mit dem Plätschern eines Brunnens, hier und da rattern Rasenmäher. „Allermensch recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann“ stand früher auf der olivgrünen Hauswand. Heute steht „s’Sträuba“ da. „Fastnachtsnarren“ hatten den Familiennamen an die Wand gepinselt.

Drinnen:Über die knarzende Holztreppe geht es in den ersten Stock. Die Schuhe lässt man an, sagt Straub („Wir sind doch auf dem Bauernhof“). In der Stube riecht es nach Holzofen und Äpfeln. Filterkaffee zischt in der Maschine. Auf der Wetteranzeige steht in goldenen Ziffern: „veränderlich“. Die Kuckucksuhr im Wohnzimmer ist stehen geblieben. An den Tapetenwänden hängen Kalender mit Bibelversen, ein Foto vom 80. Geburtstag: Rosemarie Straub mit Rotweinglas und gerahmter Brille in der Hand, ein weiteres Foto zeigt die Urgroßmutter („92 ist sie geworden“). Daneben Postkarten der Enkel: aus Peru, Portugal, der Toskana. „Wir konnten halt nie weg wegen der Küh'“, sagt sie: „Ich kenne es eben nicht anders“.

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Die Letzte: Rosemarie Straub trägt eine türkisfarbene Bluse. Sie passt zu den Sommersprossen und den aschblonden Haaren. Zur Begrüßung legt sie die geschüttelte Hand in ihre, als wäre das mit dem Fühlen die einfachere Kommunikation. Mit ihren Händen hat sie 60 Jahre jeden Morgen und jeden Abend ihre Kühe gemolken, inzwischen hilft eine Melkmaschine, erklärt sie und versinkt in ihrem Gartenstuhl, die Arme auf der Lehne. Es ist heiß unter der rot-braunen Markise. Rosemarie Straub ist die letzte Milchbäuerin im Ort.

Familie: Auf der Veranda stehen Hefegebäck und Holundersprudel auf einer Blumentischdecke. Die älteste Tochter Anita ist zu Besuch, wie jeden Freitag. „Leider“ sagt sie, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, lebe sie ein paar Ortschaften weiter. Alle vier Kinder wohnen im Umkreis von 80 Kilometern. Die neun Enkel seien weiter verstreut, erzählt Straub und rührt dickflüssige Milch in ihren Kaffee.

„Roma mit Oma“: Ein Fotobuch zeigt Bilder einer Italienreise mit ihrer ältesten Enkelin: „Roma mit Oma“, 2014. Rosemarie Straub ist über 80, sitzt mit fliederfarbenem Jäckchen auf dem Steinboden vor dem Vatikan. Es ist die erste Flugzeug­reise ihres Lebens und eines der größten Erlebnisse („Ich bin sehr gläubig“).

Immer auf dem Hof: Früher waren die Straßen noch aus Schotter. Jeder Bauer pflanzte dasselbe. 70 Milchbetriebe gab es. Als sie elf Jahre alt war, hat Straub das erste Mal eine Kuh gemolken. Sie wäre gerne Sekretärin geworden, wie zwei ihrer Töchter. Aber was man werden wollte, wurde früher nicht gefragt. Nur über die Wintermonate kommt Straub aus dem Dorf – als Haushaltshilfe jobbt sie dann auf anderen Höfen. Weg konnte sie sonst nur, wenn sie mit dem Musikverein einen Ausflug machte, „das war alles“, sagt sie und verscheucht eine Fliege aus ihrem Gesicht. Für die Kühe brauchte sie dann eine Vertretung („Sonst lassen sie’s einfach laufen“). Beim Musikverein lernte sie ihren Mann kennen. Sie war 21, als sie heirateten. Dann zog sie auf den Hof: „Wie das halt so ist.“

Der Hausherr: Hugo, 87, grüne Arbeitshose und Gummistiefel, kommt gerade vom Feld und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Mit „erst einmal ablegen“ begrüßt er sie. Auf dem Sessel in der Stube schläft er ein. Immer noch stehe er jeden Tag auf dem Feld. Nur Holz hacken, das könne er nicht mehr, erzählt seine Frau: „Gott sei dank geht es uns noch gut“. Seit 59 Jahren sind sie verheiratet.

Die guten Zeiten: 1961 bauten sie einen neuen Stall, erzählt Straub. Damals ging es dem Hof gut. Sie erinnert sich an kalte Winter mit minus 20 Grad und darunter („Wir zogen uns an wie die, wie sagt man, Eskimos?“). Dann das Warten auf den Frühling, gefrorene Mistberge und warme Stuben. Zu essen habe es immer genug gegeben. Man musste die Sachen nur gut verarbeiten und einlagern, sagt sie. In den Laden ging sie nur für Reis, Öl und Kaffee.

Jetzt: Heute sei die Landschaft voller Biogasanlagen. Hygienevorschriften und Bio hätten die Landwirtschaft verkompliziert, findet Straub („Alle geben auf“). Den Hof, früher die Existenz, nennt sie nur noch ihr Hobby: „Und manche Hobbys sind halt anstrengend.“ In der rechten Hand hält sie eine volle Gießkanne. Mit roten Schlappen stapft sie über die Beet-Bretter, links und rechts: etwa 15 Gemüsesorten, zwei Gewächshäuser. Zwei ausgemusterte Grabsteine stehen am Gartenrand: Amalie und Wilhelm Straub steht darauf. Schon die Urgroßeltern bewirtschaften das Grundstück.

Alltag: Straubs Tag beginnt um sieben Uhr morgens, sagt sie in der Milchküche, metallene Kübel trocknen über der Spüle, ein paar Fliegen schwirren durch den Raum. Es riecht nach verschütteter Milch. Es sei das gleiche System wie vor 60 Jahren. Im Türrahmen wartet eine Frau mit Stofftasche. Sie ist eine der letzten Milchkunden im Ort. Straub kennt sie mit Vornamen. 80 Cent kassiert sie pro Liter. Gegen 52 Cent für die Milch im Supermarkt, die viel länger hält, hätte sie keine Chance.

Modern: Früher trafen sich alle Frauen auf dem Feld, im Melkhaus, besonders gerne aber um die Gemeinschaftskühltruhe: Sonntags ging man eben zur „Gfriere, zum Schwätzen“, erinnert sich Straub. Alles änderte sich, als sie in den 60ern ihre erste eigene Gefriertruhe kauften. Natürlich wäre es seitdem leichter geworden, das Essen haltbar zu machen. Viele Frauen im Dorf hätte sie aber seitdem kaum mehr gesehen. Je moderner die Landwirtschaft wurde, desto mehr fehlte auch „das Zwischenmenschliche“, sagt sie. Plötzlich gab es schon im Frühling Kirschen im Supermarkt („Das hab’ich nie verstanden“). Menschen bekamen Allergien gegen Blütenstaub. Kinder wussten nur noch aus Schulbüchern, woher die Milch kommt. Manchmal, sagt Straub, fühle sich die letzten 20 Jahre Fortschritt für sie wie ein Rückschritt an.

Aufgeben: „Heute geht’s nicht mehr.“ Straub schüttelt den Kopf, öffnet die Stalltüre, als wäre ihr der Anblick unangenehm: Die weißen Wände sind staubmeliert. Ein paar Schwalben kreisen um ihre Nester, Fliegenfallen rotieren im Wind, pendelnde Kuhschwänze („Damals war’s voll hier, jetzt ist es halt leer“). Von zwanzig Kühen stehen nur noch vier im Stall. Resle, Jose, Hannah und Romy, zählt sie auf. Daneben zwei Kälbchen, eine ältere Ziege, mehr aus Mitleid als Nutzen, sagt Straub, und entfernt Stroh von zwei Eiern. Zu wenig Anerkennung für zu viel Arbeit. Von Milch aus dem Ausland, Marktpreisen, Überproduktion und Zuschüssen hört sie nur aus dem Radio. Verstehen würde sie das Ganze nicht: „Ich bin kein Rechner, sondern ein Schaffer.“

Wie geht es weiter: Lange hatten sie die Hoffnung, der älteste Sohn würde den Hof übernehmen. Als sie und ihr Mann mit 65 in Rente gingen, überschrieben sie ihm das Grundstück. Nur selten sei er da. Er habe eben auch sein eigenes Leben. Leider, sagt sie, sei er einfach kein Landwirt. Nur zur Kartoffelernte würde sich die gesamte Familie auf dem Hof treffen. Straub überlegt, die Kühe zu verkaufen. Selbst schlachten wäre keine Option. Zu verbunden sei sie mit ihren Tieren. Trotzdem ist sie realistisch: „Wir müssen ja irgendwann auch mal gehen.“

Das Wichtigste: „Dass alle gesund sind“, Straub klopft auf den Metalltisch. Zufrieden sei sie, wenn die Pflanzen wachsen, die Bohnen sich durch die Erde bohren, Blumen aufgehen. Um dem Glück nachzuhelfen, ritzt sie in jeden Brotteig drei Kreuze. Glück sei, wenn die ganze Familie um den gedeckten Tisch beten würde. „Die eigenen Sachen zu essen“, fügt ihre Tochter hinzu, „das ist wichtiger als die größte Palme.“

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