: Der große Ausverkauf
Angeschmiert und abgewickelt: Ein neues Buch fragt nach den Auswirkungen der Treuhand auf ostdeutsche Biografien
Aus Grimma Michael Bartsch
Der symbolische „Gerechtigkeitsfonds“ und die Wiederentdeckung der verletzten ostdeutschen Seele waren 2017 doch nicht nur ein Wahlkampfgag der SPD. Sogar Thüringens CDU-Landeschef Mike Mohring fordert plötzlich einen Ausgleich für die Rentennachteile, die zu DDR-Zeiten geschiedene Frauen hinnehmen müssen. Mit einer Studie der damaligen Ost-Beauftragten Iris Gleicke rückte Ende November des Vorjahres auch eine Institution ins Blickfeld, die als Inbegriff des Ausverkaufs der DDR 1990 bis 1994 gilt: die Treuhand. Marcus Böick, einer der maßgeblichen Autoren der Studie, stellte am Montag im sächsischen Grimma bei der Friedrich-Ebert-Stiftung ein eigenes Buch vor, das am 2. Juli offiziell erscheinen wird.
Auf 600 Milliarden D-Mark schätzte der 1991 ermordete erste Treuhand-Chef Detlev Rohwedder das Volksvermögen der DDR. Rohwedders Nachfolgerin Birgit Breuel hingegen sprach nur noch von „Schrott“, der unter marktwirtschaftlichen Bedingungen kaum eine Wettbewerbschance hatte. Was stimmt? Mit der Wirtschafts- und Währungsunion vom 1. Juli 1990 stand jedenfalls die unausweichliche Aufgabe, 8.500 „volkseigene“ Staatsbetriebe in private marktfähige Strukturen zu überführen. Dazu wurde die Treuhandanstalt als eine Art Wirtschaftsregierung geschaffen.
Wie wenig die Bundesrepublik (West) noch an eine Wiedervereinigung Deutschlands geglaubt hatte, zeigte ein Hinweis aus der etwa 60-köpfigen, sehr kompetenten Zuhörerschaft der Buchvorstellung: Ein Essay wie der Ludwig Erhards zu „Wirtschaftlichen Fragen der Wiedervereinigung“ von 1953 war ebenso längst in Vergessenheit geraten wie der Entwurf eines Einigungsvertrags drei Jahre später. Alle wurden 1990 vom Tempo des Vereinigungsprozesses überrascht.
Dessen Preis war hoch. Statt der vom Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann propagierten Anteilsscheine für DDR-Bürger an „ihrem“ Volksvermögen und statt erhoffter Erlöse schloss die Treuhand mit einem Defizit von 280 Milliarden D-Mark. Ein Drittel der Betriebe wurde abgewickelt, zwei Drittel wurden privatisiert, von denen wiederum drei Viertel in kapitalkräftige westdeutsche Hände gerieten. Drei Viertel der Arbeitsplätze gingen zumindest vorübergehend verloren. Eineinhalb Millionen ostdeutsche Wirtschaftsflüchtlinge suchten daraufhin in Westdeutschland ihr Glück.
Solche Zahlenkolonnen und Diagramme gehören zur Doktorarbeit des Historikers Marcus Böick. Der gebürtige Ostdeutsche forscht jetzt an der Ruhruniversität Bochum. Nachdem Soziologen und Ökonomen verstummt sind, bezeichnet er seine Arbeit selbst als die erste zeithistorische zum Treuhand-Thema. Im Zusammenspiel mit Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) ging es in Grimma aber vor allem um die Auswirkungen dieser scheinbar alternativlosen Rosskur auf die Biografien und das Gemüt der ehemaligen DDR-Bürger.
Das Image der „Untreuhand“ als Vollstrecker einer faktischen Übernahme des Ostens durch die westdeutsche Wirtschaft ist bis heute ein übles. „Welche Alternativen hätte es gegeben?“, fragte allerdings auch ein Diskutant, und es fiel der Hinweis auf ökonomisch sehr viel langwierigere Transformationsprozesse in osteuropäischen Ländern. Aber allein schon die Dominanz westdeutscher „Yuppies“ oder Lobbyisten unter den 3.000 Mitarbeitern der Treuhandanstalt erinnerte viel Ostdeutsche an Kolonisatoren. 85 Prozent der ostdeutschen Forschungskapazitäten wurden liquidiert. Die Kaliindustrie oder die Isolatorenproduktion in Großdubrau/Lausitz liefern handfeste Beispiele der Beseitigung unliebsamer weltmarktfähiger Ost-Konkurrenz.
Autor Böick differenzierte hier und nannte auch erfolgreiche Übernahmen. Nur eben in den seltensten Fällen durch eine Übernahme der Mitarbeiter. Marion Hossfeld, Lehrerin an der Leipziger Thomasschule, sprach von der „Entwertung von Biografien und Lebensleistungen“. Die Politik müsse „etwas machen“ mit dieser wieder aufkommenden Diskussion und nicht nur reden. Genau in diesem Sinn reiste Ministerin Köpping im Vorjahr von Kummerkasten zu Kummerkasten – und will nun sogar den Westen sensibilisieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen