„Die Tat von Münster war ein erweiterter Selbstmord“

Kriminologe Thomas Feltes über Amokfahrten und die Gefahr durch psychisch Kranke

Foto: Katja Marquard

Professor Thomas Feltes,67, ist Kriminologe an der Uni Bochum und Anwalt der Opfer im Loveparade-Prozess.

Interview Martin Reeh

taz: Herr Feltes, was war die Tat ein Amoklauf oder ein Attentat?

Thomas Feltes: Amoklauf im ursprünglichen Wortsinn heißt, dass jemand mit dem Messer oder einem Gewehr losgeht, um eine möglichst große Zahl von Menschen zu töten. Der Begriff ist zu einem Zeitpunkt entstanden, als es noch keine motorisierten Fahrzeuge gab. Man kann Münster demnach als Amokfahrt bezeichnen, denn dem Täter ging es nach dem, was wir bisher wissen, darum ungezielt Menschen zu töten. Wenn dort aber jemand gewesen sein sollte, dem er gezielt schaden wollte oder das Restaurant selbst gezielt angegriffen wurde, wäre es kein Amoklauf.

Sondern ein Attentat?

Dann wäre es schlichtweg versuchter Mord. Den Begriff Attentat würde ich für Mordversuche auf Repräsentanten des Staates oder hochrangige Personen reservieren wollen, so wie man traditionell Morde an Königen Attentate genannt hat.

Bei der Tat von Münster konnte man früh bezüglich eines islamistischen Hintergrunds stutzig werden. Der Täter hat sich selbst nach der Fahrt erschossen. Das ist bei Islamisten nicht üblich.

Ich bin mir nicht so sicher. Wir haben im Bereich Terrorismus eine Verschiebung hin zu Individualterroristen, die sich außer der Tatsache, dass sie Schaden anrichten wollen, wenig um Gepflogenheiten scheren. Die Münsteraner Polizei hat sehr gut reagiert, indem sie gesagt hat: Haltet euch mit Interpretationen zurück, bevor wir mehr wissen.

Warum begeht man eine solche Tat?

Meist gibt eine depressive Phase bei solchen Menschen, wo sie die Hoffnung auf ein für sie sinnvolles Leben aufgegeben haben und sagen: Ich will möglichst viele andere Menschen mit in den Tod nehmen, um ein Zeichen zu setzen. Zu der psychischen Störung muss dafür noch Hass auf die Gesellschaft oder andere Menschen hinzukommen. Letztlich war Münster ein erweiterter Selbstmord, bei dem andere Menschen in den Selbstmord mit hineingenommen werden. Das sind in der Regel, aber eben nicht immer Angehörige.

Und dann nimmt der Täter eine Tatform als Vorbild, die gerade ein bisschen, sagen wir, in Mode ist: nämlich mit Autos in Menschenansammlungen hineinzufahren?

Kriminologen kennen das als „Werther-Effekt“. Als sich zum Beispiel Marilyn-Monroe selbst tötete, stieg die Zahl der Suizide an. Durch Berichte über Amokfahrten sehen Menschen, die den Wunsch haben, andere mit in den Tod zu nehmen: Das ist relativ leicht zu bewerkstelligen.

In Münster sind Einwohner wieder ausgegangen, als sie wussten: Es war ein psychisch gestörter Deutscher. Müssen wir uns vor denen weniger fürchten als vor islamistischen Terroristen?

Natürlich nicht. Die Wahrscheinlichkeit, durch eine terroristische Tat zu Tode zu kommen, ist extrem niedrig …

… und durch eine Tat von psychisch gestörten?

Wenn wir den familiären Nahbereich mit einbeziehen, ist sie nicht mehr ganz so niedrig. Eine Vielzahl von Familientragödien, die es nicht in die Schlagzeilen schaffen, haben einen solchen Hintergrund. Acht von zehn Menschen, die von der Polizei erschossen werden, sind psychisch krank.