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Endlich Zeit zum Zuhören

Keine Regierung, keine Fachausschüsse: Viele Abgeordnete langweilen sich. Sie lauschen sogar Plenardebatten

Von Gunnar Hinck

Josephine Ortleb lässt sich Zeit mit einer Wohnung in Berlin. „Die Lage ist noch zu unklar“, sagt die saarländische SPD-Politikerin, die seit Oktober neu im Bundestag sitzt. Die Regierungsbildung zieht sich, und auch die Fachausschüsse im Bundestag, die normalerweise analog zu den Ministerien eingerichtet werden, haben sich noch nicht formiert. Auch die Sitzungswochen wurden um einen Tag verkürzt. Für die 31-Jährige gibt es derzeit also weniger zu tun als für Abgeordnete üblich.

Die Ausschuss-Arbeit ist das Berliner Kerngeschäft für Abgeordnete, die keine herausgehobenen Funktionen innerhalb der Fraktion haben. Josephine Ortleb, als ausgebildete Restaurantfachfrau und Tochter einer Gastwirtsfamilie eine der wenigen Nichtakademikerinnen in der Fraktion der ehemaligen Arbeiterpartei SPD, nutzt die Zeit für die Arbeit im Saarbrücker Wahlkreis, den sie direkt gewann: „Manchmal pendele ich mehrmals pro Woche hin und her.“

Im November hatte der Bundestag – gegen die Stimmen der Linksfraktion – nur drei Ausschüsse eingesetzt, die das Nötigste abarbeiten sollen. Darunter ist der Hauptausschuss, ein Übergangsgremium, durch den alle Gesetzesvorlagen müssen. Man spielte auf Zeit, bis eine neue Regierung stehen sollte. Nach dem Jamaika-Aus änderten die Fraktionsspitzen ihre Strategie; länger ließen sich die eigenen Abgeordneten nicht hinhalten. Um zu funktionieren, braucht das Parlament Fachausschüsse, wo diskutiert und gedealt wird, worauf es ankommt: die Details der Gesetze. Ende Januar sollen auch die Fachausschüsse endlich arbeiten.

Arbeitsgruppen in den Fraktionen gibt es bereits, Josephine Ortleb sitzt in der Arbeitsgruppe Familie – dem Pendant zum Familienministerium. „Hoffentlich komme ich auch in den entsprechenden Ausschuss“, sagt sie. Das entscheiden die Parlamentarischen GeschäftsführerInnen ihrer Fraktion.

Trotz oder wegen der Hängepartie – nie waren Bundestagsabgeordnete so freischwebend wie derzeit. Sie habe alle Rechte und haben auch mehr Freiheiten: Fraktionsdisziplin? Braucht man nicht, denn es gibt ja keine Gesetze, die eine Regierung derzeit durchbringen will. Die Rollenverteilung – Oppositions- und Regierungsfraktion – sind noch nicht festgezurrt.

Wiebke Esdar, Fraktionskollegin von Josephine Ortleb, machte zumindest Mitte Dezember alles selbst: Ihre Sachbearbeiterin war krank, der Büroleiter, den sie gern beschäftigen würde, steckte noch in einem anderen Arbeitsvertrag.

Eine Wissenschaftliche Mitarbeiterin hat sie, wie die meisten neuen Abgeordneten, noch nicht eingestellt – weil sie nicht weiß, in welchem Ausschuss sie landet. Wiebke Esdars Büro ist in diesen Tagen wie diesen ihr Handy. Die Bielefelderin nervt die derzeitige Situation. „Es ist ziemlich anstrengend. „Man weiß nicht, was für eine Regierung eigentlich kommt und wann sie kommt.“ Bei der Bundestagswahl nahm sie der CDU den Wahlkreis für die SPD wieder ab. Die 33-Jährige ist in der SPD gut vernetzt. Mit einem großen Landesverband, den Jusos und der Frauen-Arbeitsgemeinschaft ASF im Rücken schaffte sie es mit einem der besten Ergebnisse auf Anhieb in den SPD-Parteivorstand.

Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bielefelder Uni würde am liebsten in den Bildungsausschuss; Bildung ist ihr Lieblingsthema. Sie unterstützt einen Gesetzentwurf zur weiteren Lockerung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik – der von der Linksfraktion eingebracht wurde. Der liegt allerdings im Hauptausschuss auf Halde. „Es wäre schön, wenn der Entwurf durchkäme. „Vermutlich wird der Antrag in den Bildungsausschuss überwiesen, wenn der sich gebildet hat“, sagt Wiebke Esdar. Dass der derzeitige Schwebezustand im Bundestag den Parlamentarismus insgesamt beflügelt, mit spontanen interfraktionellen Bündnissen Gesetze durchzubringen, ist eine Illusion.

„Man weiß nicht, was für eine Regierung kommt“

Wiebke Esdar, SPD-Abgeordnete

Wenn die dringend nötigen Fachausschüsse endlich gebildet sind, werden wohl wieder Koalitionsverhandlungen anstehen – und SPD-Abgeordnete kaum noch für Anträge der Linksfraktion stimmen.

Auch Anna Christmann, neue Grünen-Abgeordnete aus Stuttgart, ist unzufrieden mit dem Leerlauf im Parlament. Zwar hat sie jetzt mehr Zeit, die Debatten zu besuchen: „Ich gehe auch ins Plenum, wenn gerade nicht die eigenen fachlichen Debatten laufen.“

Das machen derzeit viele Abgeordnete, weshalb das Plenum voller ist als üblich. Neulich stellte sie während einer Debatte eine mündliche Frage zum Digitalpakt. Wissenschaftsministerin Johanna Wanka, CDU, hatte 5 Milliarden Euro für die digitale Ausstattung der Schulen versprochen – doch die sahen bisher keinen Cent. „Ich bekam eine unbefriedigende ­Antwort und wurde auf die nächste ­Bundesregierung vertröstet“, beschwert sich Christmann.

Christmann, die die Digitalisierung als ihr Kernthema sieht und einst im Stuttgarter Wissenschaftsministerium gearbeitet hat, empfand das Ende der Jamaika-Sondierungen als „sehr frustrierend.“ Wir hätten in meinem Themenbereich sofort loslegen können, sagt sie. „Was den Breitbandnetz-Ausbau anging, darüber herrschte Konsens.“ Aber jetzt sei es eine ziemliche Hängepartie.

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