: Schwein komplett
Schweinerüssel, Schweinemilz, Schweineblut: Das Restaurant Herz & Niere serviert alles vom Schwein – und will so zeigen, dass nicht immer alles für jeden da ist. Aber ist das schon radikal?
Von Doris Akrap
Hauptstadtbarsch aus dem Aquaponik-Projekt Schöneberg bei 60 Grad fermentiert, dazu Fichtennadeln und Rapsblüte. Der Wein rauchig, im Abgang lieblich. So stellen der Koch und der Sommelier des Kreuzberger Restaurants Herz & Niere die Vorspeise des Abends vor. Der Koch erläutert das Prinzip des Restaurants: „Wir kochen radikal. Alles vom Tier wird verwendet.“
Tatsächlich lässt er seine Kellner dann im Hauptgang krossen Schweinerüssel, sechs Wochen gereiften Schweinerücken, Schweinemilz, Schweineblutspätzle und Teile von Schweineohrläppchen servieren. Hätte er nicht verraten, dass es Ohrläppchen sind, ich hätte das vor mir liegende Arrangement für Putengeschnetzeltes gehalten, dem die Sahnesoße fehlt. So aber stochere ich vorsichtig um die Teile auf dem Teller herum und frage mich, ob das sein muss; rede mir ein, sowieso keinen großen Hunger zu haben, pikse dann eines dieser kleinen Klümpchen mit der Gabel auf und knabbere so vorsichtig daran, als wäre es das Ohrläppchen eines Geliebten.
Nicht jeder aber von den rund fünfzig Gästen an diesem Abend bekommt etwas ab vom Schweinerüssel. „Ich sag unserem Bauern immer: ‚Sammel alles auf.‘ Aber ein Schwein hat nun mal nur einen Rüssel, eine Zunge und eine Nase. Und deswegen haben manche von Ihnen heute nur einen Nasenrücken auf dem Teller.“ Auch das noch. Nur Rücken statt Rüssel. Schließlich möchte das Restaurant seine Gäste mit einem Statement nach Hause schicken: „Es ist nicht immer für jeden alles da.“
Für die beiden Journalistinnen Elise Landschek und Elisabeth Weydt bietet dieses Motto und das Konzept des Restaurants einen geeigneten Rahmen, um ihr Projekt „deRadika – Think fast, eat slow“ vorzustellen. An diesem Abend, an dem es krosse Schweineohrläppchen und zum Nachtisch „unreife Brombeeeren und Blutschokolade“ gibt, haben sie Sozialarbeiter, Journalisten, Umwelt-, Lebensmittel- und Politaktivisten eingeladen. Auch Künstler, Kulturschaffende und Politiker sind da, darunter auch ein AfD-Vertreter. Sie alle sollen über den Begriff und das Phänomen der Radikalisierung diskutieren. Das Konzept des Restaurants passe zu ihrer Motivation, die Vorstellung von Radikalität nicht der rechten Ecke zu überlassen, sondern auch von links wieder diskutierbar zu machen, betonen Landschek und Weydt. Vier Porträtfilme haben sie über „politisch Radikale“ gedreht, die zwischen den Menügängen gezeigt werden.
Der Abend ist ein Experiment. Er soll ein Test sein und darüber Aufschluss geben, ob sich das Format eignet, um in Parteiortsvereinen, in Buchklubs, an Schulen oder auch im Rahmen der Flüchtlingsarbeit über Radikalisierung zu diskutieren. Ziel sei es nicht, ein Manifest für oder gegen das Radikale zu verfassen. Man wolle vielmehr darüber reden, worüber wir eigentlich reden, wenn wir „radikal“ sagen. „Uns interessiert die Ambivalenz an diesem Phänomen“, sagen die Veranstalterinnen. Zu Beginn wollen sie wissen: „Wo fängt für euch das Radikale an?“ Jemand ruft: „Bei der AfD.“ Der anwesende AfD-Vertreter antwortet: „Das musste ja kommen.“
Das erste Filmporträt zeigt Melanie Dittmer, Vorsitzende der Identitären Bewegung, einer rechtsextremen Gruppierung, die in Frankreich entstand und europaweit immer mehr Anhänger findet. Auf die Frage der Interviewerin, ob sie sich als radikal bezeichnen würde, antwortet Dittmer: „Nein, als vehement.“ Der zweite Film zeigt einen Pariser, der aus dem Tschad stammt, mal Anführer einer bekannten Gang war, im Gefängnis von Islamisten missioniert wurde, sich aber wieder von ihnen lossagte.
Einer der geladenen Gäste an der großen „Herz & Niere“-Tafel sagt: „Das Beispiel des Manns aus dem Tschad zeigt, dass wir moralisch verpflichtet sind, uns um diese Menschen zu kümmern.“ Der Vertreter der AfD erwidert: „Ich verwehre mich gegen diesen Satz. Wir haben keine Verpflichtung. Wenn die zu uns kommen, ist das deren Problem.“
Es wird der letzte Satz sein, den er an diesem Abend laut sagt. Von seinen Tischnachbarn wird er jedoch während des Essen ausgiebig befragt, und er erzählt, wie er dazu kam, in die AfD einzutreten – und warum er sich dagegen verwahrt, Menschen zu helfen. Er habe mit sich selbst viel zu tun, eine harte Scheidung hinter sich und in diesem Zusammenhang eine große Ungerechtigkeit seitens der deutschen Justiz erfahren.
Es folgen die beiden anderen Porträtfilme, einer über einen griechischen Umweltaktivisten, ein anderer über einen ehemaligen PKK-Kämpfer. In der anschließenden Diskussion fallen Sätze wie: „Radikal ist, wenn man den anderen nicht zuhört.“ – „In den 70ern waren die Biobauern Radikale, die man für Spinner hielt. Heute finden alle Bio super.“ – „Wir dürfen das Wort ‚radikal‘ nicht verkommen lassen. So wie es mit ‚nachhaltig‘ passiert ist.“ – „Wir sind alle radikal. Auch die Depressiven, die dagegen Medikamente nehmen.“ – „Warum fragt man eigentlich nicht, warum so viele Personen nicht radikal werden?“
Ein Sozialarbeiter erzählt die Geschichte eines Jungen, der mit seinem Vater auf eine linke Demo ging und die Nazis von gegenüber viel interessanter fand. Dann essen wir alle am Tisch noch ein bisschen Blutschokolade. Ich allerdings nicht. Schon beim Anblick der Schokolade hört meine Leidenschaft fürs Radikale auf. Ich berühre das braune Stückchen nur mit der Zungenspitze, und schon bilde ich mir ein, das Blut von zwei Tonnen Mastschweinen zu schmecken. Und frage mich, ob womöglich sich heute radikalisierende Jugendliche das Angebot rechter, nihilistischer und faschistischer Weltanschauungsgruppen mit Mordauftrag einfach interessanter finden als das Angebot linker Gruppen, die bei krossen Ohrläppchen darüber reden, wie scheiße die Welt ist.
Ein gemeiner Gedanke. Selbstverständlich ist ja an allem politischen Diskutieren – ob bei ökologisch einwandfreiem Essen oder ganz ohne Schweinerüssel – immer auch was dran. Aber eben nicht für jeden alles.
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